10.800 Mark Strafe für Oberarzt

Der 41jährige ehemalige Leiter der Drogenklinik der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Berlin wurde der vorsätzlichen Körperverletzung im Amt für schuldig befunden / Spritze sollte Urinabgabe fördern  ■ Von Gitti Hentschel

Berlin (taz)- Wegen Körperverletzung im Amt in Tateinheit mit Freiheitsberaubung verurteilte am Montag ein erweitertes Schöffengericht in Berlin den früheren Oberarzt der Drogenklinik Frohnau zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen a 90 DM, also 10.800 DM; ein mitangeklagter Pflegehelfer der Klinik erhielt wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung eine Geldstrafe von 3.600 DM oder 60 Tagessätzen.

Nach Feststellung des Gerichts hatte der 41jährige, damalige Oberarzt und faktisch Leiter der Drogenklinik, einer Nebenstelle der Karl-Bonhoeffer Nervenklinik (KBoN), das Pflegepersonal telefonisch angewiesen, bei einem 28jährigen Patienten am Morgen des 29.August 1986 Urin zu kontrollieren, notfalls auch gegen dessen Willen und mit Hilfe einer Injektion. Der 43jährige mitverurteilte Pflegehelfer hatte den drogenabhängigen Patienten, der aufgrund eines Gerichtsbeschlusses untergebracht war, zunächst bis morgens neun Uhr zur Urinabgabe aufgefordert. Als der Patient dann statt der geforderten 50 Milliliter nur 20 Milliliter abliefern konnte, wurde er von zwei Pflegehelfern „fixiert“, das heißt auf sein Bett gefesselt. Anschließend verpaßte ihm der dritte, hier verurteilte Pflegehelfer eine Spritze mit einem harntreibendem Mittel.

Gegen die beiden Pflegehelfer, die den Angeklagten fixiert hatten, stellte das Gericht das Verfahren gegen Zahlung einer Geldbuße und eines Schmerzensgeldes an den betroffenen Mann ein. Auch gegen eine Krankenschwester, die dem Pflegehelfer das zu injizierende Medikament gegeben hatte, wurde das Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt.

Bezeichnend in dem Prozeß war, daß keiner der Angeklagten für die rechtswidrige Zwangsmaßnahme gegen den Patienten Verantwortung übernahm. Der frühere Oberarzt leugnete, die Anordnung überhaupt gegeben zu haben. Die Pflegehelfer beriefen sich dagegen auf dessen Anordnung, die ein Kollege telefonisch entgegengenommen und auf ein dafür vorgesehenes Mitteilungsbrett geschrieben habe.

Prinzipiell, so hatte der frühere Oberarzt erklärt, akzeptiere er Maßnahmen wie Spritzen oder Fixierung gegen den Willen von Patienten nur, wenn sie therapeutisch zwingend notwendig seien. Und die lagen seiner Ansicht nach nicht vor. Er erklärte die Beschuldigungen des Pflegepersonals damit, daß sich aufgrund seines strikten Vorgehens nach einem neuen therapeutischen Konzepts gegen ihn etwas „zusammengebraut“ habe. Sein Verteidiger machte geltend, daß diese Anordnung für die belasteten Pflegehelfer zugleich die einzige Entschuldigung wäre. Allerdings konnte der Arzt übereinstimmende Aussagen von Pflegehelfern, er habe die umstrittene Anordnung in einem Fixierbuch mit der Bemerkung „genehmigt“ unterschrieben und erst später ein „nicht“ hinzugefügt, nicht entkräften. Er widersprach sich auch selbst, als er zugab, einem anderen Patienten mit ähnlicher Maßnahme „aus pädagogischen Gründen“ gedroht zu haben. Eine Drohung, die der Klinikchef der KBoN, Dr. Becker, als Zeuge „nicht pädagogisch, sondern eine Kathastrophe“ nannte. Er erklärte außerdem, daß Spritzen für Fixer schon deshalb therapeutisch schädlich seien, weil „das Gefühl der Nadel in ihrem Körper“ bereits etwas bei ihnen auslöse.

Für die beteiligten Pflegehelfer spielte nach eigenem Bekunden keine Rolle, daß es im Kollegenkreis heftige Debatten über die Anordnung des Oberarzts gegeben hatte. Denn, so der 43jährige Pflegehelfer, der seit Jahren in der Klinik tätig war: „Ich denke, der Arzt denkt sich was dabei. Er ist mein Vorgesetzter, und ich hab gemacht, was er angeordnet hat.“ Ihm hielt der Richter in seiner Urteilsbegründung auch seine Aussage vor: „Nachdem die anderen sich geweigert hatten, war ich der einzige, der (die Spritze) noch geben konnte und wollte.“ Bedrückend wirkte auch das Verhalten der insgesamt elf Zeugen aus der Klinik. Für die meisten war die Rechtswidrigkeit der Zwangsmaßnahme klar und siw wollten damit „nichts zu tun“ haben. Doch keiner hatte den Versuch unternommen, den Patienten vor dem Übergriff der Kollegen zu schützen.

„Ich kam mir vor wie der letzte Hund“, sagte der betroffene Patient, der vor Gericht als Nebenkläger auftrat. Nach der Spritze habe er sich schlapp und wie ausgetrocknet gefühlt. Er berichtete von einer Auseinandersetzung mit dem Oberarzt am Vortag, in deren Verlauf er den Arzt angegriffen habe. Schließlich habe der Oberarzt aus Angst und zur Demonstration seiner Macht die Polizei geholt. „Du kriminelles Luder, ich werde dich kleinkriegen“, habe der Arzt ihm schließlich gedroht. Nach dem Vorfall wurde der Oberarzt vom Dienst suspendiert. Nach diesem Urteil wird über seine Weiterbeschäftigung ein Arbeitsgericht entscheiden. Der Staatsanwalt hatte für den früheren Oberarzt eine Strafe von vier Monaten auf drei Jahre Bewährung.