INTERVIEW
: Das Interesse an Politik wächst wieder

■ Der Historiker Milos Hajek, Spezialgebiet Geschichte der III. Internationale, ist seit 1. Januar 1988 einer der drei Sprecher der Charta 77 / Noch im März 1945 wurde er von den Deutschen zum Tode verurteilt

taz: Als Kohl heute nachmittag über die Karlsbrücke ging, waren es vor allem deutsche Touristen, die ihn begrüßten. Was bedeutet sein Besuch für die Tschechoslowaken?

Hajek: Die Nation ist depolitisiert. Ihr Interesse an Politik ist schwächer als vor 20 Jahren, aber auch stärker als noch vor zwei Jahren. Zum Beispiel finden sich morgens um neun Uhr kaum noch Zeitungen an den Kiosken. Das ist neu. Aber Kohls Besuch ist im Bewußtsein der Leute von der Straße nicht so wichtig wie der Besuch Gorbatschows oder die Wahl von Jakes zum neuen Parteisekretär.

Wurde denn die Wahl von Jakes als Einschnitt für eine neue Reformpolitik in der CSSR wahrgenommen?

Die Wahl war eine Verlegenheitslösung. Jakes hat sich in den letzten 20 Jahren nicht profiliert. Er ist auch schon zu alt um zehn oder fünfzehn Jahre an der Spitze bleiben zu können.

Viele sagen, daß nach 1968 nur noch korrumpierte Mitglieder in der Partei geblieben, daß nur noch Opportunisten eingetreten sind. Gibt es denn für die Charta noch Ansprechpartner in der Partei?

Fast keiner ist nach der Säuberung aus Überzeugung in die Partei eingetreten. 90 bis 95 Prozent dieser Leute sind Karrieristen oder Opportunisten. Sie wollten ihren Beruf aus üben und einen Posten haben, für den man Parteimitglied sein muß. Deshalb sind sie eingetreten. Mit politischem Bewußtsein hat das nichts zu tun.

In letzter Zeit ist die Ökologie einer der Mittelpunkte Ihrer Aktivität geworden. Hat sich dadurch der Kreis der alten Anprechpartner der Charta erweitert?

Umweltpolitik können nicht nur Dissidenten alleine machen. Es muß Kontakte in den staatlichen Strukturen geben.

Haben Sie die?

Die haben wir.

Sind das auch wirkliche Ansprechpartner für die Charta?

Ja, darunter gibt es auch Ansprechpartner. Ich möchte Ihnen dazu einige Beipiele erzählen. Es gibt zum Beispiel mindestens zwei ökologische Initiativen, eine in Chomutov in Nordböhmen und eine Gruppe von 20 bis 30 Leuten in Bratislava in der Slowakei, die alle in den Strukturen drinstecken. Architekten, Ingenieure und Ärzte etc. In Bratislava haben sie ein Dokument unterzeichnet, in dem das Ausmaß der Luftverschmutzung in der Stadt dargestellt wird.

Was war die Reaktion des Parteikomitees in Bratislava?

Die gesamte Auflage des Dokuments wurde beschlagnahmt und eingestampft, den Druckern wurde veboten, eine neue Auflage zu drucken.

Trotzdem sind die Probleme nicht unter den Tisch zu wischen. Es werden immer wieder Gruppen von Leuten entstehen, die aufgrund der allgemeinen Problemlage und der Probleme in ihrem Beruf neue Ideen in die Gesellschaft einbringen wollen.

Die alten reformerischen Parteikader haben die Partei verlassen. Dennoch haben sie sich gerade in den letzten Wochen wieder öffentlich zurückgemeldet. Wie haben Sie von dem Interview mit Dubcek in der Unita erfahren?

Ich habe vorher schon davon gewußt und habe mit ihm in Prag gesprochen. Aber den Text habe ich erst durch die Voice of America gehört. Wurde denn das Interview in der Bevölkerung diskutiert? Es gibt genug Interesse, der Text wurde auf Tonband aufgenommen und abgeschrieben. Viele Leute fragen nach Abschriften. Als Dubcek neulich in Prag war, kamen viele Leute auf ihn zu, um ihn zu begrüßen, und wollten ein Autogramm. Und das, obwohl er sagte, daß das schlechte Folgen für sie haben könnte. Als Dubcek dann am Abend ins Theater ging, verbeugten sich die Schauspieler vor ihm, als sie ihn im Parkett sitzen sahen.