Brechtsche Medientheorie live in Rheinhausen

Zum ersten Mal nicht von oben verordnet: Bürgerfernsehen „Offener Kanal Rheinhausen“ / Krupp-Mitarbeiter nutzten Möglichkeit des NRW-Landesmediengesetzes / IG-Metaller halfen mit Beziehungen zu Landesrundfunkpolitikern  ■ Aus Rheinhausen J.Bischoff

Mittwoch gegen 19.30 Uhr, Beethovenstraße 15 in Rheinhausen. Klaus Nikodem schleppt einen großen Metallkoffer durch den Regen in einen riesigen Sozialbaukomplex aus den sechziger Jahren. Im obersten Stockwerk schließt Nikodem eine Eisentür auf: wir stehen auf einem Dachboden. Links um einen Mauervorsprung herum fällt der Blick auf einen violetten Flokatiteppich, auf dem zwei Bistrotische und vier schwarze Stühle stehen. Über das Eck hängt als Hintergrund eine graue Plastikfolie: wir sind in einem Fernsehstudio. Mit geringstem Aufwand hat sich hier in einem Siedlungshaus des Kruppschen Wohnungsbaus der „Offene Kanal Rheinhausen“ etabliert. Zwei kleine Scheinwerfer beleuchten die Szene und spenden wenigstens ein bißchen Wärme. Inzwischen sind auch Erich Speh, Kranfahrer bei Krupp, und Dietmar Hauschke, Hochofensteuerer in der Hütte, mit Videokassetten eingetroffen. Ein Zettel mit dem heutigen Programm wird an die Folienwand geklebt: „1.Aktuelle Fragestunde; 2.DGB-Aktionstag.“ Klaus Nikodem packt eine Amateurvideokamera aus dem Koffer und baut die Anlage auf. Strippen führen zu einem Holzverschlag, hinter dem der Antennenverstärker für 3.700 Wohnungen einer Kruppschen Sozialsiedlung installiert ist. In diese Anlage wird das Programm des Offenen Kanals (OK) eingespeist. Ein Pi ratensender des Arbeiterwiderstandes, ganz im Sinne der Brechtschen Radiotheorie, möchte man vermuten. Aber die „Arbeitsgemeinschaft Offener Kanal“ hat eine – bis gestern nur vorläufige – offizielle Sendeerlaubnis der nordrhein-westfälischen Landesrundfunkanstalt (LfR) in Düsseldorf. Möglich macht es das Landesmediengesetz NRW. Es verpflichtet Kabelnetzbetreiber – darunter fallen auch Gemeinschaftsantennenanlagen in großen Siedlungen – dazu, Programme von Bürgergruppen, die sich als „Offener Kanal“ konstituiert haben, einzuspeisen.

Für gestern Nachmittag wurde nun die Entscheidung über die gesetzliche Zweijahreslizenz für den Duisburger OK erwartet. Wenn die Landesrundfunkkommission dem einstimmigen Votum eines Vorprüfungsausschusses folgt, dann dürfen Klaus Nikodem und seine Mitstreiter ab heute sogar von der Deutschen Bundespost verlangen, daß diese das freie Bürgerfernsehen in sämtliche Duisburger Kabel einspeist. Während auf dem Fernsehgerät, das in der rechten Ecke des Dachstuhls steht, noch die „Tagesschau“ läuft, nimmt Dietmar Hauschke am Bistrotisch Platz. Er präsentiert heute seinen ersten selbsthergestellten Film. Am Morgen hatte er sich neben Manfred Bruckschen, dem Betriebsratsvorsitzenden des Rheinhauser Hüttenwerks, den IG-Metall-Chef Franz Steinkühler gekrallt. Bereitwillig sitzen die vielbeschäftigten Funk tionäre vor der Kamera des Amateurs, der ihnen die recht unbequemen Fragen eines Vertrauensmannes stellt.

Franz Steinkühler begibt sich nur in diese Niederungen, weil der „Offene Kanal“ ein (Adoptiv- ) Kind der Duisburger IG Metall ist: auf der formaljuristischen Schiene bei der Gründung des notwendigen Trägervereins und beim Lizenzantrag haben die IG-Metaller ihre guten Drähte zu den Düsseldorfer Rundfunkpolitikern spielen lassen.

Doch angefangen hatte es mit den Aktivitäten mehrerer Videoamateure aus dem Hüttenwerk. Ihre Filme von den Aktionen in und um Rheinhausen stellten sie zusammen und brachten sie zunächst einmal zu sympathisieren den Geschäftsleuten. Sie zeigten die jeweils neuesten Filme als „Schaufensterfernsehen“. Auf die Idee, die Filme auch auszustrahlen, kamen sie erst, als Mitarbeiter des OK beim Kabelfernsehen Dortmund ihnen die Möglichkeiten aufzeigten, die ihnen das neue nordrhein-westfälische Privatfunkgesetz in diesem Punkt gibt. Die Landesanstalt für Rundfunk, die bisher mehr damit beschäftigt war, sich selber aufzubauen, wurde dann auch vom Duisburger Ansinnen eiskalt erwischt. Wenn es nicht gerade die eigene Klientel gewesen wäre, bei der sich ohnehin schon genug Dampf angestaut hatte, dann hätten die ausgeklügelt sozialdemokratisch besetzten LfR-Gremien den Antrag sicher auf die lange Bank geschoben. „Die haben lieber in den sauren Apfel gebissen, bevor er bitter wurde“, so ein Mitarbeiter der Medienwerkstatt im Rheinhausener IG-Metall-Haus, wo die Bürger sich Geräte für OK- Filme ausleihen und diese dann auch sendefertig schneiden können. Inzwischen sind auch Medienfreaks in anderen Städten wachgeworden. Seit die Kunde vom Bürgerfernsehen aus Duisburg sich im Lande verbreitete, sind weitere drei Anträge auf Zulassung eines Offenen Kanals bei der LfR eingetroffen. In Duisburg jedenfalls hat der OK inzwischen eine erstaunlich weite Verbreitung: die Geschäftsinhaber schneiden inzwischen selber die Sendungen mit und spielen sie am nächsten Tag im Schaufenster ab.