Die kaukasischen Rechnungen sind noch offen

■ Im Konflikt zwischen Armeniern und Aserbeidschanern ist nur eine trügerische Ruhe eingekehrt

Die offenen Auseinandersetzungen sind einer fragilen Ruhe gewichen. Während die Armenier auf Gorbatschows Antwort warten, fügen sich Nachrichten und Historische zu einem Bild zusammen. Nationalitätenkonflikte des 19.Jahrhunderts, sowjetische Minderheitenpolitik und alltägliche Diskriminierung der Armenier in der aserbeidschanischen Diaspora erklären die jüngsten Ereignisse.

Gespannte Ruhe in der aserbeidschanischen Stadt Sungait. Am Donnerstag patrouillierten noch Soldaten durch die Straßen , die nächtliche Ausgangssperre blieb weiter in Kraft, Armenier begruben in einem gemeinsamen Begräbnis ihre getöteten Angehörigen. Einige der „Unruhestifter“ in Sungait sind nach Moskauer Regierungsangaben festgenommen worden. In Bergkarabach wird wieder gearbeitet, nachdem die Regierung Ultimaten gestellt hatte. Viele Aserbeidschaner, die nach dem Aubruch der Unruhen aus Armenien geflüchtet waren, kehren in ihre Wohnorte zurück. Aus der Stadt Kirowabad, wo die Armenier in der Minderheit sind, kommen widersprüchliche Meldungen: Die Nachrichtenagentur Reuter berichtet von Freiwilligen– Patrouillen (“auf Wunsch der Bevölkerung“) und zitiert einen Parteifunktionär, der die Lage dort als „ruhig“ bezeichnet. Quellen aus Karabach berichten dagegen, die armenischen Einwohner von Kirowabad lebten in Angst, da sich die Armee zurückgezogen habe und die (schützende) Miliz zum großen Teil aus Aserbeidschanern besteht. Bei den anti–armenischen Ausschreitungen habe die Miliz die Armenier nicht geschützt. Derweil werden die Nachrichten über die Vorfälle konkreter. Den Anfang hatten Massendemonstrationen in Yerewan, der Hauptstadt der armenischen Sowjetrepublik, und in der in Aserbeidschan gelegenen Armenier– Enklave Karabach gemacht. Die Demonstranten forderten die Wiedereingliederung von Karabach in Armenien. Obwohl die Massenkundgebungen nach übereinstimmenden Zeugenaussagen ausgesprochen friedlich abliefen, sind wohl auf dem Markt von Yerewan Stände von Aserbeidschanern zerstört worden. Eine noch unbekannte Zahl in Armenien lebender Aserbeidschaner ist nach Aserbeidschan geflüchtet. Es folgten die antiarmenischen Ausschreitungen vom vergangenen Wochenende. Im mehrheitlich von Aserbeidschanern bewohnten Sungait wurden (nach armenischen Angaben aus Karabach) Armenier überfallen, Molotowcocktails in ihre Häuser geworfen und Frauen vergewaltigt. Mindestens 17 Tote und über 300 Verletzte soll es dabei gegeben haben. Eine Familie, die aus Sungait nach Yerewan geflüchtet ist, hat nach Informationen der taz berichtet, alle Aserbeidschaner hätten auf Verabredung nachts dort das Licht gelöscht. Die erleuchteten Fenster seien so als Wohnungen von Armeniern kenntlich gewesen und daraufhin Opfer von Angriffen geworden. Die Angreifer seien Banden von 50–100 Leuten gewesen, die nicht aus Sungait stammten. Mit Spannung wird nun der 26.März erwartet. An diesem Tag will die Regierung in Moskau bekanntgeben, was für eine Lösung sie sich vorstellt. Bis dahin sollen in Yerewan keine Kundgebungen mehr stattfinden, und auch die Karabacher wollen nur noch an arbeitsfreien Tagen demonstrieren. Falls die Eingliederung Karabachs in Armenien in weite Ferne gerückt wird, sehen Diaspora–Armenier düstere Zeiten herannahen: „In solch einem Fall“, erklärte ein Armenier der taz in Berlin, „wird in einem Jahr kaum noch ein Armenier in Karabach leben. Sie werden alle auswandern. Und auch für die Armenier im Ausland wird das schwerwiegende Konsequenzen haben: Denn bislang haben wir immer gesagt, wir Armenier haben eine Heimat in der Sowjetunion. Wenn es dort aber nicht gelingt, ein eindeutig armenisches Gebiet der armenischen Republik einzugliedern, dann müssen wir auch diese Hoffnung fahren lassen. Dann wird es einen scharfen Rechtsruck bei den Diaspora–Armeniern geben, dann werden die gegenseitigen Besuche mit den Sowjetarmeniern aufhören. Wer weiß, vielleicht sind einige so verzweifelt, daß der bewaffnete Kampf wieder auflebt. Wir erwarten Gorbatschows Entscheidung mit großer Aufregung.“ Antje Bauer