StaatsdienerInnen streiken nicht für Arbeitslose

■ Tarifkompromiß im Öffentlichen Dienst bringt eineinhalb Stunden Arbeitszeitverkürzung, aber keine neuen Arbeitsplätze / Kompromiß ähnelt dem Schlichter–Vorschlag / ÖTV stimmt zu / Urabstimmung abgesagt

Von Martin Kempe

Berlin (taz) - Gestern morgen um vier, nach elf Stunden Verhandlungsmarathon im Stuttgarter TWS–Heim, waren die Arbeitgeber endlich über ihren Schatten gesprungen und hatten sich auf einen Kompromiß im Tarifkonflikt des Öffentlichen Dienstes eingelassen. Die rund 2,7 Millionen Beschäftigten bei Bund, Ländern und Gemeinden werden in zwei Jahren eineinhalb Stunden pro Woche weniger arbeiten, ihre Löhne und Gehälter werden in drei Stufen geringfügig erhöht. Einen Streik im Öffentlichen Dienst wird es also nicht geben. Die ÖTV hat inzwischen den Kompromiß durch Beschluß ihrer Großen Tarifkommission akzeptiert und die vorsorglich für Mitte April geplante Urabstimmung über Arbeitskampfmaßnahmen abgeblasen. Der in Stuttgart ausgehandelte Kompromiß ist bis auf wenige Ein zelaspekte identisch mit dem Einigungsvorschlag, den der Vorsitzende der Schlichtungskommission, der ehemalige Innenminister Höcherl (CSU), in der letzten Woche mit Zustimmung der Gewerkschaften und gegen das Votum der Arbeitgeber vorgelegt hatte (s. Kasten S.2). Abweichend von Höcherls Vorschlag wird die für dieses Jahr vorgesehene Lohnerhöhung um zwei Monate auf den 1.März statt 1.Januar hinausgeschoben, was Innenminister Zimmermann zu dem befriedigten Kommentar veranlaßte, dadurch könnten die Öffentlichen Haushalte eine Milliarde Mark einsparen. Als Gegenleistung sollen die beiden bisher schon im Öffentlichen Dienst bestehenden freien Tage pro Jahr bestehen bleiben. Mit diesen beiden Tagen beträgt die wöchentliche Durchschnittsarbeitszeit im Öffentlichen Dienst in Zukunft nicht 38,5 Stunden, wie im Tarifvertrag festgeschrieben, sondern faktisch 38,1 Stunden. Die ÖTV–Vorsitzende Wulf– Mathies äußerte sich zu dieser Modifikation des Höcherl–Vorschlages ebenfalls zustimmend: Es habe ein Tausch von Geld gegen Arbeitszeit stattgefunden und dies sei die Hauptstoßrichtung der Gewerkschaft gewesen. Fortsetzung auf Seite 2 Kommentar auf Seite 4 Insgesamt, so hofft man bei der Gewerkschaft, werde der Abschluß rund 100.000 Arbeitsplätze im Öffentlichen Dienst schaffen. Bei Einführung der ersten Stufe der Arbeitszeitverkürzung im April 1989 will die ÖTV ihre Betriebs– und Personalräte anspitzen, „daß die Stellenpläne so verändert werden, wie es die Arbeitszeitverkürzung erfordert“. Innenminister Zimmermann dagegen bestritt, daß der Abschluß irgendwelche Neueinstellungen zur Folge haben werde. Während die Tarifparteien sich am Dienstag für die Verhandlung rüsteten, machte eine neuerliche Intervention des saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine in den Tarifkonflikt Furore. In einem Fernschreiben an die Ministerpräsidenten der Länder sowie an die Verhandlungsführer der Arbeitgeber schrieb er: „Die Empfehlung der Schlichtungskommission zu den Tarifabschlüssen im Öffentlichen Dienst wird zurecht als unbefriedigend angesehen.“ Eine lineare Erhöhung für alle Vergütungs– und Lohngruppen gefährde die Beschäftigung, weil die Länder und Kommunen wegen ihrer Haushaltsknappheit dann weiter Stellen einsparen müßten. Mit Blick auf eine solidarische Lohn– und Gehaltspolitik sollte auf eine Steigerung verzichtet werden. Die öffentlichen Arbeitgeber sollten sich im Gegenzug dazu verpflichten, „die rechnerisch dadurch eingesparten Mittel in vollem Umfang und nachprüfbar für die Schaffung neuer Stellen zu verwenden“. Aus dem Stuttgarter Verhandlungssaal wurde berichtet, daß beide Delegationen diese Intervention „mit Lachen“ zur Kenntnis genommen und zurückgewiesen hätten.