: K O M M E N T A R Brisante Mischung
■ Konservativer Parteiflügel qnd nationalistische Strömungen verbinden sich gegen die Reform
Der Meinungsstreit in der Sowjetunion wird nun zunehmend öffentlich ausgetragen. Daran ist eigentlich nichts Erschreckendes, im Gegenteil, es ist ja gerade das Ziel der Reform, die gesellschaftlichen Konflikte in der Öffentlichkeit auszutragen, die Bürger am Geschehen zu beteiligen und einen Meinungsbildungsprozeß in Gang zu setzen, der die Reform unumkehrbar macht. Die Töne, die jetzt angeschlagen werden, kristallisieren jedoch ideologische und politische Optionen, die für die Reformer erstmals gefährlich werden könnten. Im Vorfeld der Allunions–Parteikonferenz Ende Juni, während der eine Parteireform an Haupt und Gliedern diskutiert werden soll, werden jetzt die Lanzen der Kontrahenten geschärft. Und da hilft auch nicht mehr das in der Prawda–Kritik an dem Leserbrief in der Sowjetskaja Rossija wiederholte Argument, daß es keine Alternative zur Reform mehr gebe. Die in dem (wahrscheinlich von oben lancierten) Leserbrief ausgedrückte Kritik am Kosmopolitismus und Internationalismus, mit der seit jeher nationalistische, antisemistische sowie prostalinistische Töne einhergehen, weist auf eine brisante politische Konstellation: der Verbindung von konservativen und stalinistischen Parteikadern und dem russischen Nationalismus. Daß eine solche Verbindung in Rußland durchaus mobilisierende Kraft besitzt, ist angesichts der Ereignisse in Armenien, in den baltischen Ländern und den Forderungen anderer Volksgruppen der Sowjetunion wie die der Krimtataren wohl zu vermuten. Das inzwischen offene Auftreten chauvinistischer (Rand–) Gruppen wie „Pamjat“ sind für solche Grundstimmungen ein Beleg. Die Dezentralisierung von Staat und Wirtschaft ist Kern der Reform und für die Konservativen in der Partei und den nationalistischen Strömungen in Rußland gleichermaßen bedrohlich, während sie für andere Nationalitäten größeren Spielraum verspricht. Die Art und Weise der „Befriedung“ Armeniens jedenfalls muß für die Reformer in die falsche Richtung gehen. Erich Rathfelder
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