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„Chirac, Barre und Le Pen sitzen im gleichen Boot“

■ Die französischen Rechtsradikalen haben um satte fünf Prozent beim ersten Präsidentschaftswahlgang zugelegt / Bürgerliche Rechte als eigentlicher Wahlverlierer / Mitterrand wird nach seinem Erfolg eine Koalition der Mitte zugunsten der Gaullisten durchziehen können

Aus Paris Georg Blume

Auch nach einer langen Wahlnacht hat die Kommentatorin im französischen Fernsehen keine Erklärung. Le Pens Wahlsieg leite sich aus den jüngsten Ereignissen auf Neukaledonien ab, wo französische Polizisten von Kanaken als Geiseln genommen wurden, weiß sie den Fernsehzuschauern am Montag morgen zu sagen. Frankreichs Establishment ist ratlos. „Wir erleben ein politisches Erdbeben und eine radikale Veränderung der nationalen Landschaft“, sagte Jean–Marie Le Pen am Sonntagabend. Le Pen hat recht. Das Establishment lügt. 14,41 Prozent der Stimmen bescheinigt das vorläufige Endergebnis des ersten Wahlgangs der französischen Präsidentschaftswahlen dem rechtsradikalen Führer. Knapp fünf Prozent legte er damit im Vergleich zum Abschneiden seiner Partei bei den Parlamentswahlen 1986 (9,8 Prozent) zu. Die hohe Wahlbeteiligung von 82,1 Prozent sichert ihm darüber hinaus einen zusätzlichen Stimmengewinn. Unwiderruflichhaben sich die französischen Rechtsradikalen heute eine politische Stellung erobert, die alle bisher üblichen historischen Vergleiche mit den ebenso heftigen wie kurzlebigen rechtsextremistischen Erscheinungen der französischen Nachkriegszeit (Poujadismus) nunmehr ausschließt. Am Sonntag gewann Le Pen seine Stimmen auf Kosten der Rechten und nicht der Linken. Die bisherige Annahme, daß sich die rechtsradikalen Wählerschichten nur zu zwei Dritteln aus konservativen und immerhin zu einem Drittel aus kommunistischen Wählerpotentialen rekrutierten, ist überholt. Die bürgerliche Rechte ist der eigentliche Verlierer der Wahl. Konnten ihre Kandidaten 1981 beim ersten Wahlgang noch 49,3 Prozent der Stimmen gewinnen, so vereinigen Chirac und Barre heute nur noch 36,5 Prozent der konservativen Wählerstimmen auf sich. Schlimmer noch: Da beide bürgerlichen Kandidaten (Chirac 19,9 Prozent; Barre 16,5 Prozent) unter der Zwanzig–Prozent–Hürde blieben, rückten sie in Sichtweite Le Pens. Gegenüber der taz erklärt Le Pens Wahlkampfleiter Pascal Gannat: „Chirac, Barre und Le Pen sitzen heute im gleichen Boot.“ Der rechtsradikale Kandidat selbst kann dem nicht ganz unbegründet hinzufügen: „Seit Monaten haben die Medien fast ausschließlich Mitterrand, Barre und Chirac als einzige aussichtsreiche Kandidaten präsentiert. Wenn ich mit ihnen auf die gleiche Stufe gestellt worden wäre, hätte ich die Wahlen gewon nen.“ Das rechtsradikale Erdbeben hat vor allem die französischen Städte erschüttert. Gleichauf mit Mitterrand errang Le Pen in Marseille knapp 27 Prozent der Stimmen, etwa soviel wie Chirac und Barre dort zusammen. In den meisten Großstädten des französischen Südens stellt die Front National nunmehr die stärkste rechte Partei und bereitet so einen Kreuzzug durch die Rathäuser bei den Gemeindewahlen im kommenden Jahr vor. Die Lage von Jacques Chirac ist nicht rosig. Obwohl er im Rennen gegen Barre gewann, konnte er für die Gaullisten im Vergleich zu 1981, als sie mit Michel Debre und ihm zwei Kandidaten stellten, keine Stimmen dazugewinnen. Die Zeit der „Cohabitation“, als er während der letzten zwei Jahre in der Rolle des Regierungschefs an der Seite Mitterrands stand, entpuppt sich für ihn heute nicht als die erhoffte Phase des Prestigezuwachses, sondern als Zeit der Geiselnahme seiner Regierung einer rechtsradikalen Opposition und einem über den Dingen stehenden Präsidenten. Francois Mitterrand hat am Sonntag mit 34,1 Prozent der Stimmen nicht das zunächst erwartete Plebeszit erhalten. Seine Wiederwahl, die außer Frage steht, wird keine nationale Begeisterung auslösen, sondern eine Wahl des geringeren Übels sein. Wie schon 1981 wird sein Sieg auf der Spaltung des gegnerischen Lagers beruhen. Doch Le Pen verschafft ihm neue Aussichten: Neben einer für Jahre in die marginale Opposition verbannten gaullistischen Partei wird die rechtsliberale UDF von Raymond Barre der Zerreißprobe nicht entgehen. Mitterrands historisches Projekt einer Koalition der Mitte, bestehend aus Sozialisten und den Zentrumspolitikern der UDF, erscheint heute einlösbar. Diese schon im Wahlkampf erkennbare Stoßrichtung Mitterrands gab der Opposition am linken Rand am Sonntag eine Chance. Kommunisten, Grüne, Linksalternative und Trotzkisten sammelten immerhin 15 Prozent der Wählerstimmen. Wenn die KPF auch ihren unaufhaltsamen Niedergang fortsetzt, so konnte ihr Kandidat Andre Lajoinie mit 6,8 Prozent der Stimmen doch den Einbruch unter die Fünf–Prozent– Hürde vermeiden. Die französischen Grünen, die man nur schwerlich zur Linken zählen kann, überraschten mit 3,8 Prozent der Stimmen (unter ihnen acht Prozent der Jungwähler). Ihr Erfolg zeugt vom Erhalt einer politikfernen, naturbezogenen Strömung in Frankreich. Währenddessen rutschte der linksalternative Kandidat Juquin, der mit seiner Kampagne nach bundesdeutschem Grünen–Modell auchfür das Ausländerwahlrecht einen mutigen Wahlkampf führte, an den Rand der Bedeutunglosigkeit (2,1 Prozent). Mit zwei Prozent bzw. 0,4 Prozent der Wählerstimmen konnten die trotzkistischen Kandidaten Laguiller und Boussel ihre Stimmenanteile im Vergleich zu früheren Präsidentschaftswahlen wahren. Die Kleinen scheiden nun aus, der Wahlkampf aber geht weiter. Werden Chirac und Le Pen verhandeln? Welche Wahlaussage wird Le Pen für den zweiten Wahlgang machen? Schon am Sonntag addierte Chiracs Innenminister Pasqua aus den Stimmen von Le– Pen, Barre und Chirac eine numerische Mehrheit von 50,4 Prozent der Stimmen zusammen. Le Pen spricht vom „großen Elan der nationalen Wiedergeburt“. Rettungsarbeiten nach dem Erdbeben sind in Frankreich noch nicht vorgesehen.

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