Trotz allem - kein Tiefflugverbot über AKWs

■ Tiefflieger sollen AKWs meiden, müssen aber nicht / Bei schlechtem Wetter oder Gegenverkehr dürfen Jets über gefährdetem Gebiet tieffliegen / Oberstleutnant nennt Vorschrift „faktisches Überflugverbot“ / Überfliegen von militärischen Schutzzonen verboten

Ludwigshafen (taz) - Ein ausdrückliches Überflugverbot über Atomkraftwerke für Tiefflüge hat es in der Bundesrepublik trotz offizieller Beteuerungen nie gegeben. Und auch die jüngsten Abstürze in allernächster Nähe von AKWs haben bei Militärs und Regierungspolitikern nur zu wortkosmetischen Variationen ihrer Richtlinien für den Tiefflugbetrieb geführt. Am 31.März gegen 9.40 Uhr krachte es in der Hardtstraße in Forst bei Bruchsal gewaltig. Danach fehlten drei Häusern die Dächer, der Rest brannte lichterloh. Die Havarie des amerikanischen F 16–Jagdbombers kostete am Gründonnerstag zwei Menschen das Leben. Forst liegt rund 10 Flugsekunden von den AKWs Phillippsburg I und II und dem Karlsruher Atomforschungszentrum entfernt. Einen Tag zuvor war die halbe Republik zusammengezuckt. Bei Landshut, eineinhalb Kilometer neben den bayrischen Nuklearmeilern Ohu I und II, rammte sich eine französische Mirage in den Acker. Der Pilot starb. Ohu I ist eine betagte Altanlage mit einer gerade 60 cm dicken Betonhaut, Ohu II hat eine rund 100 cm starke Betonhülle. Beide AKWs, und das ist auch in der Atomgemeinde unumstritten, sind für Abstürze der schweren Mirage–Bomber nicht ausgelegt. Ein einzige, winzige Flugsekunde hatte gefehlt, um die Diskussionen über die Frage, was passiert wenn, zum Verstummen zu bringen. Die zwei Unglücksmaschinen hatten eines gemeinsam. Ihre Piloten übten sich im Tiefflug. In der Anlage 1 der gültigen Zentralen Dienstvorschrift 19/2 der Bundesluftwaffe (ZDv) heißt es im Abschnitt über die Durchführung von Tiefflügen, „ ... darüber hinaus gilt die Beschränkung, Städte mit weniger als 100.000 Einwohnern, andere dichtbesiedelte Gebiete und in Tiefflugkarten gekennzeichnete Kernkraftwerke nach Möglichkeit nicht zu überfliegen; ..“ Ein klares Wort. Verboten ist der direkte Überflug von Atomanlagen in der Bundesrepublik nicht, ganz zu schweigen davon, was der eine oder andere Pilot als Zielobjekt benutzt. Der Sprecher der Luftwaffe im Bundesverteidigungsministerium, Oberstleutnant Peter Trittermann, nennt diese Vorschrift ein „faktisches Überflugverbot“. Für die Piloten der Alliierten gelten die gleichen Regeln, zu finden im AFCent– Lowfly–Handbook. Mehr Sorgen machen sich die Militärs da um ihre eigenen Einrichtungen. Ausdrücklich verbietet die ZDv 19/2, Ziffer 114, der Luftwaffe das Überfliegen ihrer eigenen Schutzzonen, des Hubschrauberschutzgebietes Bückeburg und durch Notam Class I (Notam Class=Schnellinformation für Luftfahrer) aktivierte Fallschirmabsetzgebiete und bekannte oder erkannte LV–(Luftverteidigungs)–Kampfanlagen. Ausdrücklich verboten ist auch, „das aus der Luft erkennbar zum Stadtkern gehörende Siedlungsgebiet von Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern innerhalb der auf den Tiefflugkarten dargestellten Grenzen zu überfliegen“. Vergangene Woche, am 20.April - zwei Tage zuvor knallte ein Tiefflieger im Hunsrück bei Hermeskeil, vier Kilome ter neben einem Bundeswehrdepot in den Wald - änderte Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner (CDU) die Vorschrift. An diesem Tag erreichte die Luftwaffe eine sogenannte Mil–Spec– Notice, eine militärische Sonderbenachrichtigung. Laut Peter Trittermann müssen die Piloten bei der Durchführung der Tiefflüge „den Kurs so wählen, daß Kernkraftwerke nicht überflogen werden“. Also wieder kein Verbot. Warum? Bei schlechten Wetter oder aber bei Gegenverkehr müssen die Jets ausweichen dürfen, heißt es offiziell. Derlei Ausreden finden die Militärs bei den expliziten Verboten nicht. Dann nämlich müssen die Flugzeugführer ihren Tiefflug schlicht aufgeben. Oberstleutnant Peter Trittermann sieht in der neuen Wortwahl allerdings eine „Verschärfung der Vorschriften.“ Die sei vor dem Hintergrund der „jüngsten Ereignisse“ erfolgt. Auffällig dabei ist, daß die Formulierungskosmetik erst einen Tag vor einer Pro und Contra–Sendung im ARD und nicht nach den Beinahe–Havarien in Ohu und Phillippsburg vorgenommen wurde. Doch selbst ein Überflugverbot über AKWs schafft nach Ansicht der Bundeskoordination der Bürgerinitiativen gegen Tiefflüge keine Sicherheit vor dem durch einen Flugzeugabsturz befüchteten Super–GAU. Dazu müßten alle Tiefflüge in der Bundesrepublik eingestellt werden, fordern die Tiefflug–Gegner. Was für AKWs gilt, gilt auch für chemische Betriebsanlagen wie Bayer, Höchst oder die BASF in Ludwigshafen. Auch sie sind nicht durch ein Überflugverbot geschützt. Als der Mannheimer Oberbürgermeister sich deshalb an die Bonner Hardthöhe wandte, erhielt er zur Antwort, daß man seine „Besorgnis eines Flugzeugabsturzes in Industrieanlagen teile“. „Generell“ sei allerdings festzustellen, „daß dieses Risiko gering ist“. Im Übrigen handele es sich hier „nicht um ein spezielles Problem des militärischen Tieffluges, sondern des Luftverkehrs über Industrieanlagen insgesamt. Ein Überflugverbot von Industrieanlagen mit hohem Gefährdungspotential nur für den Tiefflugbetrieb würde das bestehende Risiko kaum vermindern, zumal davon ausgegangen werden kann, daß bei Notfällen die Besatzung in der Lage ist, das Luftfahrzeug aus dem gefährdeten Gebiet wegzusteuern“, hieß es in dem Antwortschreiben an Mannheims OB. Die Mär des kontrollierten „Wegsteuerns“ gilt längst nicht mehr. Denn als vor drei Jahren ein französischer Bomber im Garten eines Wohnhauses in Oberderdingen (Kreis Karlsruhe) einschlug, war der Pilot bereits in der Nähe von Bonn per Schleudersitz ausgestiegen. Die rund 300 km sauste die Todesmaschine allein durch die Luft. Felix Kurz