Das Schweigen durchbrechen?

■ Die marokkanische Schriftstellerin und Soziologin Fatima Mernissi kann endlich auch auf deutsch gelesen werden

Von Thomas Hartmann

Das traditionelle Schweigen der Frauen in islamischen Ländern, speziell in ihrem Heimatland Marokko, zu durchbrechen - dies ist das Ziel der Schriftstellerin und Soziologin Fatima Mernissi, Feministin in einem nordafrikanischen Sinne. Zwei ihrer Bücher liegen jetzt auf deutsch vor: eine Reflexion über die Stellung der Frau im Islam (“Geschlecht, Ideologie, Islam“) und ein Interviewband, in dem Frauen von ihrem Leben in Marokko berichten (“Der Harem ist nicht die Welt“). Die beiden Bücher verfolgen den Weg der marokkanischen Frauen aus dem Harem der islamischen Tradition auf drei Ebenen: deskriptiv als filigranes Bild des Alltagslebens aus der Sicht von Frauen (in: „Der Harem ist nicht die Welt“), als sozio–ökonomische Analyse über das Verhältnis der Geschlechter in Marokko, sowie als ideologiekritische Reflexion über die Rolle der Frau im Islam (beides in: „Geschlecht, Ideologie, Islam“). Wem die Lebensbedingungen in einem arabisch–islamischen Land fremd sind, oder wer einfach mehr darüber erfahren möchte, mag mit „Der Harem ist nicht die Welt“ beginnen. Elf ziemlich unterschiedliche marokkanische Frauen, alte und junge, Araberinnen und Berberinnen, Analphabetinnen vom Lande und Akademikerinnen aus der Stadt erzählen ihre Lebensgeschichte, ihre Freuden, und wie sie mit all ihren Problemen fertig werden. Es sind Geschichten voller Details, wie Fäden, die einzeln genommen unscheinbar wirken, zusammengewoben aber einen dicken Teppich von Erfahrungen bilden. Elternhaus, Schule oder Arbeit, Heirat und Eheleben sind natürlich - mit facettenreichen Nuancen - zentrale Themen. Wenn die 25jährige Hausangestellte Khadija vom Ärger mit ihrem Ehemann berichtet (von dem sie schließlich die Scheidung erreicht), oder wenn die 27jährige Jurastudentin Nezha von ihrem Freundeskreis und den Partys erzählt, wirkt Marokko gar nicht so fremd. Wenn die 27jährige Tahra von ihrem Heimatdorf im Hohen Atlas berichtet, von den Festen mit ihren improvisierten Liedern voller Anspielungen über den neuesten Dorfklatsch. Während Tahra, jetzt Frau eines Gelegenheitsarbeiters in der Stadt, eher nostalgisch an ihr Heimatdorf zurückdenkt, erinnert sich die nur zehnjährige Aicha an den Hunger in ihrem Bergdorf. Als Siebenjährige wird sie von ihrem Vater bei einer Familie in Fes „untergebracht“. Weil sie dort mißhandelt wird, verläßt sie diese Familie, und findet eine Stellung als Hausmädchen bei einer anderen in Rabat. Die Interviews wurden Anfang der siebziger Jahre durchgeführt, haben aber - auch wenn vielleicht inzwischen neue Aspekte hinzukommen - nichts an ihrer Bedeutung verloren. Aus über 100 wählte Fatima Mernissi diejenigen Interviews zur Veröffentlichung aus, die ihrer Meinung nach „zugleich Gespräche unter Freundinnen waren, wo es gelungen ist, Oberflächlichkeit und Mißtrauen zu überwinden und wirklich aufeinander einzugehen.“ Am stärksten waren diese Bande sicherlich mit Rabea, einer Lehrerin, die ebenfalls 1940 geboren wurde. „Als Kind einer gutbürgerlichen Familie der Stadt Safi war Rabeas Lebensweg eigentlich vorgezeichnet: genau wie ihre Mutter, so wie alle Mädchen aus gutem Hause im Marokko der Kolonialzeit, hätte sie ihr Leben in einem Harem verbringen sollen. Aber die Väter dieser Generation kämpften für die nationale Befreiung, und im Verlauf dieser Auseinandersetzung geriet auch eine Sphäre in Umbruch, die man sich stets als zeitlos und unveränderlich vorgestellt hatte: die Privatsphäre, das häusliche Leben, jener intime Bereich, in dem die Mütter und Töchter ihren angestammten Platz haten. Den Männern aus den besten Familien, die für die nationale Unabhängigkeit Marokkos eintraten, ging es um die Veränderung der politischen Machtverhältnisse - an eine Veränderung der innerfamiliären Beziehung war nicht gedacht. Man träumte von einem neuen Marokko, von Industrialisierung, Demokratisierung und besserem Bildungswesen, aber man verord nete den Töchtern nach wie vor den Schleier und schickt sie auf die Islamische Mädchenschule ... Die Mädchen sollten auch weiterhin ihr Leben in der Abgeschiedenheit verbringen und dem Gang der Geschichte durch kunstvoll vergitterte Fenster zusehen. Rabea hatte einen anderen Traum - sie wünscht sich Selbstverwirklichung, Bildung, das Recht, selbständig zu denken und die eigene Meinung zu vertreten. Rabea träumte davon, zu leben ..“ Daten über das Verhältnis der Geschlechter in Marokko Der gesellschaftliche Umbruch nach der Unabhängigkeit Marokkos 1956 und die daraus resultierenden widersprüchlichen Anforderungen an die Frauen sind auch Thema der sozioökonomischen Analyse im zweiten Teil des Buches „Geschlecht, Ideologie, Islam“. Die neue Dynamik der Geschlechter hat Fatima Mernissi am Beispiel ihres Heimatlandes Marokko untersucht: die Sexualprobleme der Jugendlichen, die Ehe als Konfliktfeld, die traditionelle Macht der Schwiegermütter, die Bedeutung der räumlichen Gschlechtertrennung, die Auswirkungen von Frauenlohnarbeit, von Schul– und Universitätsausbildung für Mädchen bzw. Frauen. Studien dieser Art gibt es inzwischen mehrere, wenn auch sicherlich selten von einer Frau geschrieben, die viele dieser Auseinandersetzungen und Verunsicherungen am eigenen Leib erfahren hat. Durchaus einzigartig ist jedoch die Auseinandersetzung mit der islamischen Tradition im ersten Teil dieses Buches, ihrer 1975 zuerst in den USA veröffentlichten Doktorarbeit: Fatima Mernissi geht der Frage nach, warum die Forderung selbstbewußter Frauen, die Ausbildung und finanzielle Unabhängigkeit anstreben und sich der traditionellen Frauenrolle verweigern, gerade in islamischen Gesellschaften ganz besonders heftige Gegenreaktionen mobilisieren. In einer Rückerinnerung auf die Ursprünge der islamischen Kultur wird deutlich, warum selbstbewußte Frauen im Kopf der islamischen Ordnungs hüter die Geister des heidnischen Chaos wachrufen. In der arabischen Welt wurde diese feministische Reflexion auf die islamische Kultur längst zu einem Standardwerk, auch wenn sie erst letztes Jahr in arabischer Übersetzung erschien - zudem erheblich von der Autorin selber gekürzt. Die Angst des Islam vor der weiblichen Sexualität Angelpunkt ihrer Analyse ist die islamische Konzeption von Sexualität: im Gegensatz zum Christentum, das die Sexualität durch den Sieg des Geistes über den Körper zu verbannen suchte, hat der Islam Sexualität immer auch als Lustbefriedigung der Gläubigen anerkannt, „als Hinweis auf die Wonnen des Paradieses“. Um diese Kräfte zu bändigen, schlug der Islam einen anderen Weg ein: er hat die Sexualität, die Erotik, aus dem öffentlichen Leben ausgegrenzt, in den häuslichen Familienbereich verbannt. Die Unterdrückung und Überwachung der Frau sei Ausdruck dieser Domestizierung der Sexualität zugunsten der patriarchalischen islamischen „Umma“, der Gemein schaft der Gläubigen. Hinter dieser Konzeption sieht Fatima Mernissi die Angst vor der Kraft der weiblichen Sexualität als Symbol für das heidnische Chaos. Fatima Mernissi verfolgt in „Geschlecht, Ideologie, Islam“ diese „Überwachung der weiblichen Sexualität“ über die Lehrmeinungen verschiedener islamischer Gelehrter bis hin zur Entstehung der islamischen Gesellschaftsordnung zu Lebzeiten des Propheten. Detailliert schildert sie, wie die Widersprüche im persönlichen Verhalten des Propheten, der die (vorislamischen) Rechte von Frauen in seiner Umgebung mehrfach durchaus anerkannt hat, nach seinem Tode einseitig im Sinne der neuen patriarchalischen Gesellschaftsordnung aufgelöst werden. Ein Argumentationsansatz, vergleichbar der Mobilisierung der Marxschen Frühschriften gegen die Marxorthodoxie am Ende der Studentenbewegung. Fatima Mernissi erinnert damit an die Rebellion der Frauen gegen die noch neuen Gesetze des Islam kurz nach dem Tode Mohammeds. Dies ist für die islamische Geistlichkeit in Marokko eine Provokation, für die LeserInnen in Europa kann das Buch ein Beitrag zum Verständnis sein, warum diese Frage in islamischen Gesellschaften emotional so stark besetzt ist. Fatima Mernissi: „Geschlecht, Ideologie, Islam“, Frauenbuchverlag 1987, 24 Mark Fatima Mernissi: „Der Harem ist nicht die Welt“, Sammlung Luchterhand 1988, 14,80 Mark