Weiter Streiks in Polen Regierung windet sich

■ Polnische Regierung gibt erstmals Streiks zu / Walesa vermeidet schärfere Töne gegen die Regierung / Hat Gorbatschow für eine friedliche Lösung interveniert?

Warschau/Berlin (taz/afp) - Zur materiellen Unterstützung der streikenden Arbeiter in Polen hat der Vorsitzende der verbotenen polnischen Gewerkschaft Solidarnosc die Arbeiter und Gewerkschaften „der gesamten Welt“ aufgerufen. Wie Lech Walesa am Dienstag in einem Kommunique mitteilte, das im Warschauer afp–Büro einging, wird seine Organisation Arbeitern materielle Hilfe zukommen lassen, die wegen Beteiligung am Ausstand entlassen wurden. Erstmals seit Beginn der Streiks hat die polnische Regierung gestern offiziell zugegeben, daß auf der Lenin–Werft in Gdansk und in einer Eisenbahnfabrik in Wroclaw gestreikt wird. Ein großer Teil der Arbeiter der symbolträchtigen Lenin–Werft hat sich mit den Streikenden in Nova Huta solidarisiert und dort für euphorische Szenen gesorgt. Seit Montag abend halten 2.000 Arbeiter die Leninwerft besetzt und sind damit zu einer Aktionsform zurückgekehrt, die nach dem Putsch Jaruzelskis 1981 nicht mehr angewandt werden konnte. Seit Dienstag morgen haben sich 5.000 weitere Kollegen angeschlossen. Die Polizisten schritten nicht ein, als die Arbeiter durch die Werkstore strömten. Dort waren die Forderungen der Streikenden zu lesen: 20.000 Zloty mehr, Wiederzulassung unabhängiger Gewerkschaften, Freilassung politischer Gefangener und die Wiedereinstellung der Aktivisten von Solidarnosc. Pfarrer Hendryk Jankowski, der Berater Lech Walesas, kündigte für Dienstag nachmittag eine Messe unter freiem Himmel auf dem Werftgelände an. Doch anders als noch 1981 fungiert jetzt Jan Szablewski, ein 62jähriger Arbeiter, als Streikführer und nicht, wie damals, Lech Walesa. „Die Leute sind alle entschlossen zu siegen“, erklärte der Gewerkschafter, „wie auch die Konsequenzen sein mögen.“ Walesa hingegen forderte seine Kollegen - er ist dort immer noch als Elektriker beschäftigt - nur zum „entschiedenen Protest“ gegen die Regierung auf und vermied schärfere Töne. Von „Lech Walesa“–Rufen der Arbeiter unterbrochen, forderte er zur Geduld auf. Er blieb damit auf seiner Linie, den Streik nicht anzuheizen. Er hatte am Montag zwar erkennen lassen, daß er „mit den Arbeitern“ fühle, aber auch, daß er „der ganzen Nation zur Verfügung stehen“ müsse. Die Regierungsseite hat indessen noch nicht alle Brücken zu den Streikenden abgebrochen. Fortsetzung Seite 2 Auf dem Hintergrund der Ausweitung der Streiks weiß noch niemand, welche Linie sich bei der politischen Führung durchsetzen wird. Die Sicherheitsbehörden versuchen zwar mit allen Tricks, die Streikenden in Gdansk und Krakau einzuschüchtern, sind bisher aber vor direkten Konfrontationen mit den Arbeitern zurückgeschreckt. Noch folgt die Regierung der Empfehlung des Industrieministers vom Montag, nur mit „gesetzlichen“ Mitteln vorzugehen. Verhandelt werden soll mit den offiziellen Gewerkschaften, nicht mit den Streikkomitees. Ob diese Linie mit einem Telefongespräch Gorbatschows mit Jaruzelski zusammenhängt, ist allerdings fraglich. Gorbatschow soll nach einem Bericht der französischen Tageszeitung Liberation von größeren Aktionen der Staatsgewalt abgeraten haben und für eine friedliche Lösung eingetreten sein. Gegenüber der Führung von Solidarnosc gehen die Sicherheitsbehörden härter vor als gegen die Streikenden. In einer Großof fensive hat die Polizei am Montag und Dienstag neun von 13 Führungsmitgliedern der verbotenen Gewerkschaft verhaftet, unter ihnen Bogdan Lis und Zbigniew Bujak. Nach Angabe aus Oppositionskreisen sollen seit Sonntag insgesamt fast 400 Menschen festgenommen worden sein. Auch der bekannte Oppositionelle Jacek Kuron machte am Wochenende Bekanntschaft mit den Staatsorganen. Er wurde verhaftet, als er gerade dem US–Sender „Freies Europa“ ein Telefoninterview gab. Der Streik in Nova Huta geht nun schon in die zweite Woche, und eine Lösung zeichnet sich noch nicht ab. Auch hier ist zu beobachten, daß Solidarnosc den Streik nicht radikalisieren möchte. Obwohl die Mehrheit des Streikkomitees aus ihrer Mitte kommt, wurde nicht gefordert, die Gewerkschaft wieder zuzulassen. Ein im Laufe des Montags begon nener Streik in der Dolmel–Fabrik in Breslau wurde am gleichen Tag beendet. Die Betriebsleitung hatte die Teuerungszulage von 6.000 auf 12.000 Zloty erhöht. Klaus Bachmann/Erich Rathfelder