piwik no script img

„Armutszeugnis“

■ Bundestag ächtet Zwangssterilisierung als NS–Unrecht / Keine Nichtigkeitserklärung und keine Entschädigungschancen e

Berlin (taz) - Der Bundestag hat gestern beschlossen, daß Zwangssterilisationen nach dem Erbgesundheitsgesetz von 1933 „typisch nationalsozialistisches Unrecht“ waren; die Maßnahmen werden „geächtet“; der Bundestag „verneigt“ sich vor den Opfern und ihren Angehörigen. 5.000 DM als einmalige Entschädigung sollen sie erhalten, und die Richtlinien des Wiedergutmachungsfonds sollen so gestaltet werden, daß sie unter Umständen auch laufende Zahlungen bekommen können, wenn sie nicht über andere Quellen für einen ausreichenden Lebensstandard verfügen. Dies ist ein Beratungsergebnis, das Bundestagsabgeordnete von CDU, SPD und FDP als „Durchbruch“ feiern. Der CDU–Abgeordnete Seesing betonte gegenüber der taz, daß „der Bundestag sich gegenüber den Zwangssterilisierten sehr negativ verhalten“ habe. Die „Verklammerung der ethischen mit der Finanzfrage“ müsse überwunden werden - zu deutsch: eine Nichtigkeitserklärung dieses Gesetzes hätte eine Sterilisierungsgesetzgebung präjudiziert und den Opfern Entschädigungschancen gegeben. Dies hätte die Zwangssterilisierten instand gesetzt, zivilrechtlich Entschädigung einzuklagen, hätte ihr Leben, das Inkognito ihres Leides endlich „normalisiert“. Genau das forderten die Grünen. Nach der gestrigen Entscheidung zitiert Seesing zustimmend einen Brief des Psychiaters Dörner, es gebe jetzt „eine andere ethische Reflexionsbereitschaft.“ Die Reden jedenfalls hatten dieses Pathos des Durchbruchs. Das Leid der Zwangssterilisierten, die sich zwischen Sterilisierung oder KZ damals zu entscheiden hatten, wurde zitiert. Dennoch war der „Durchbruch“ nur halb. Der „Schönheitsfehler“ - (Christa Nickels, Grüne) - liege eben in der Ablehnung der „Nichtigkeitserklärung“ der Erbgesundheitsgesetze. Der Beschluß sei ein „Durchbruch, wenn man bedenkt, daß vierzig Jahre gemauert wurde“, er sei aber auch „ein Armutszeugnis“. Die anderen Parteien „haben nicht die juristischen und materiellen Konsequenzen aus ihren Postulaten gezogen“. Ächtung nationalsozialistischer Maßnahmen sei jetzt ja selbstverständlich, selbst der furchtbare Psychiater Ehrhardt, der das Erbgesundheitsgesetz im Prinzip für rechtsstaatlich hält, konnte sich „durchaus eine moralische Verurteilung der Zwangssterilisierungen durch den Bundestag“ vorstellen. Klaus Hartung

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen