Cannes 1968 - Die Palastrevolte

■ Wie das Festival abgebrochen wurde: „Es ist undenkbar, daß die Leute in Cannes Filme gucken, während in Paris Blut fließt“

Auch wenn vielleicht kein ganz großer Film dabei war, das Wettbewerbsprogramm verhieß Gutes: Milosz Forman sollte Hori ma pa vorstellen, und es gab neue Filme von Carlos Saura, Alain Resnais, Albert Finney und Miklos Jancso. Die Jury war so zusammengesetzt, daß man am Ende eine gerechte Preisverleihung erwarten konnte: Es präsidierte der Schriftsteller Andre Chamson von der Academie Francaise, Mitglieder waren unter anderen Monica Vitti, Louis Malle, Terence Young und Roman Polanski. Die Eröffnung des Festivals am 10.Mai 1968 mit einer neuen 70–mm– und Stereo–Kopie von Gone With The Wind war ein glanzvolles Ereignis. Olivia de Havilland hatte zwar abgesagt, dafür aber war Prinzessin Gracia von Monaco gekommen. Auch die Beatles und Orson Welles waren in Cannes. Unterdes überschlagen sich in Paris die Ereignisse. Am 12. und 13.Mai tobt eine Straßenschlacht, in der die Polizei so hart zuschlägt, daß aus der Revolte Revolution wird: In Cannes protestieren die Studenten aus Nizza. Für einen Tag setzt der Präsident des Festivals, Robert Favre le Bret, die Aktivitäten aus. Das Komitee zur Unterstützung des Pariser Cinematheque–Chefs Henri Langlois, den de Gaulles Kulturminister Andre Malraux absägen will, zieht vom Carlton–Ho tel in den kleinen Saal des Festival–Palastes, den es zu diesem Zweck besetzt. Angeführt wird dieses Komitee von den Filmregisseuren Francois Truffaut und Jean–Luc Godard. In den nächsten Tagen wird das Festival mit Unterbrechungen und endlosen Diskussionen weitergeführt. Als in Paris der Generalstreik ausgerufen wird, ziehen die Aufständigen von Cannes in den großen Saal des Palastes. Sie wollen das Festival abbrechen. „Es ist undenkbar, daß die Leute in Cannes Filme gucken, während in Paris Blut fließt“, sagt Truffaut. Monica Vitti, Roman Polanski, Louis Malle und Terence Young geben ihren Rücktritt aus der Jury bekannt, der Rest der Jury erklärt seine Funktionsunfähigkeit. Lelouch, Resnais, Forman und andere ziehen ihre Filme aus dem Festival zurück. Um 11 Uhr soll die Projektion von Carlos Sauras Peppermint Frappe beginnen. Um das zu verhindern, klettern Truffaut und Godard „wie zwei Orang–Utans“ in den Vorhang und drohen, ihn anzuzünden. Die Vorstellung wird abgebrochen. Auch Saura und seine Lebensgefährtin Geraldine Chaplin haben sich solidarisiert. Am nächsten Tag, Sonntag, den 19.Mai1968, erklärt Robert Favre le Bret das Festival für beendet. Godard, Truffaut und die anderen fahren zurück nach Paris - was nicht leicht ist, weil Flughäfen, Eisenbahn und Tankstellen bestreikt werden -, um dort die „Generalstände des Kinos“ zu gründen. Thierry Chervel