Eine Palme für Universitätsassistenten

■ Auf den 41. Filmfestspielen in Cannes siegte das Akademische über die Leidenschaft

Am Montag abend war Preisverleihung: Die Juroren des weltweit wichtigsten Filmfestivals haben sich entschieden. Nicht aufregendes Kino bekam die Goldene Palme, sondern der dänische Wettbewerbsbeitrag „Pelle, der Eroberer“, eine brave Literaturverfilmung. Dabei - resümiert Thierry Chervel - waren in diesem Jahr gerade die politischen Filme die erotischen, während diejenigen, die von Erotik handelten, die Leidenschaft der Weltanschauung opferten. Um die Ohnmacht eben dieser gelungenen politischen Flme geht es Marcia Pally: wie der - typisch männliche - Versuch, Ordnung in das Chaos zu bringen, die Katastrophe zu kontrollieren, regelmäßig das Gegenteil bewirkt. Die restlichen Preise: Bester Hauptdarsteller wurde Forest Whitaker als Charly Parker in Eastwoods „Bird“, den Regiepreis bekam der Argentinier Fernando Solanas, Greenaway wurde für den besten künstlerischen Beitrag belo

Einen erhabenen Moment gab es bei der Preisverleihung: als sich Jury–Mitglied Nastassja Kinski auf die Unterlippe biß. „Der überwältigendste und bewegendste Film, den ich ...“, sagte sie bei der Überreichung des Grand Prix Spe an Chris Menges. Weiter sprach sie nicht, sonst hätte sie ihren Dissens mit der Jury–Mehrheit verraten. Sichtlich hätte sie gewollt, daß Menges Südafrika– Geschichte A World Apart die Palme bekommt, und nicht Pelle, der Eroberer. Sehr nervös in ihrem schulterfreien schwarzweißen Kleid und mit dem Chanel–Täschchen, das ihr ständig von der Schulter rutschen wollte, den Tränen nah und sich mit Blicken herzlich bei ihm entschuldigend, umarmte sie den Zweitplazierten, der wohl nicht so richtig wußte, ob er sich ärgern oder freuen sollte. Schlecht behandelt worden ist er ja nicht: der Grand Prix für einen Erstlingsfilm und der Preis für die beste weibliche Hauptrolle, den sich gleich alle drei Hauptdarstellerinnen von A World Apart teilen dürfen, Barbara Hershey, Jodhi May und Linda Mvusi (Mutter, Tochter und schwarze Haushälterin). Und doch siegt mit Pelle der Akademismus über das Engagement, die Literaturverfilmung über Kino. Pelle, ein Projekt, für das sich angeblich schon Carl Theodor Dreyer und Roman Polanski interessiert haben und das jetzt von Bille August realisiert wurde, basiert auf dem gleichnamigen, vierbändigen Roman von Martin Andersen Nexö. Lasse und sein Sohn Pelle emigrieren auf Arbeitssuche von Schweden nach Dänemark. Auf einem Bauernhof finden sie Unterkunft und kärgliches Brot. „Die Geschichte von Pelle ist universell und zeitlos. Sie handelt im wesentlichen vom Glauben an den Menschen.“ Ich habe mir das Glaubensbekenntnis erspart, Pelle ist der einzige Wettbewerbsfilm, den ich nicht gesehen habe. Ehren– und preiswerter Akademismus regierte den Wettbewerb. Typisch für das europäsische Kino sind Großproduktionen, mit denen sich das Kino gegen das Fernsehen wehren will, und die doch zum größten Teil vom Fernsehen finanziert werden, Filme wie Aguirres träge Amazonasfahrt El Dorado von Carlos Saura oder die verblasene Geschichte eines Wahrsagers, der zuerst Hitlers Machtübernahme voraussieht, was die Nazis gerne mögen, und dann den Reichtagsbrand, wofür sie ihn erschießen (Hanussen von Istvan Szabo), Filme, bei denen kein Programmdirektor Angst zu haben braucht, daß sie den Zuschauer in seiner Fiesta stören. Aber nicht das Fernsehen ist schuld am Niedergang des italienischen, französischen oder deutschen Kinos. Auch die überzeugendsten europäischen Filme des Festivals wären nicht ohne das Fernsehen entstanden. Kieslowskis schockierender Film Über das Töten ist ebenso fürs Fernsehen gedreht worden wie Ophuls Dokumentarfilm über Barbie. Greenaways Drowning by Num, Menges A World Apart, Terence Davies Distant Voices wären ohne den Einfluß des wundertätigen „Channel Four“ undenkbar (auch Salaam Bombay von Mira Nair, die zurecht die Goldene Kamera für den besten Erstlingsfilm erhalten hat, ist zum Teil von diesem Sender finanziert. Akademismus ist, wenn ein Film ausgedacht ist wie Trottas Drei Schwestern oder wie van Ackerens Venusfalle, Stücke wie von linken Universitätsassistenten. Seltsam, daß gerade diese Filme, die die Erotik des Lichts, der Orte und Schauspieler im Bemühen um die punktgenaue Bebilderung ihres weltanschaulichen Anliegens aus dem Blick verlieren, von der Erotik handeln. Während politische Filme wie A World Apart oder Salaam Bombay gerade daraus ihre ganze Kraft beziehen. Thierry Chervel