: Karl August Wittfogels orientalische Despotie In New York starb im Alter von 91 Jahren Karl August Wittfogel / Seine Forschungen über China machten ihn zu einem Klassiker der Sozialgeschichte
P O R T R A I T Karl August Wittfogels orientalische Despotie
In New York starb im Alter von 91 Jahren Karl August
Wittfogel / Seine Forschungen über China machten ihn zu
einem Klassiker der Sozialgeschichte
Mit schnellen Schritten, aufrecht wie Major Tellheim persönlich, ging er auf den um ein halbes Jahrhundert Jüngeren zu: „Rudi!“, „Karl August!“. Das war 1979 in Düsseldorf als Karl August Wittfogel und Rudi Dutschke sich das erste Mal begegneten. Dutschke sprach vom „Genossen“ Wittfogel. Der alte Mann freute sich, blühte auf und debattierte bis tief in die Morgenstunden hinein über „Orientalische Despotie“, Marcuse, die befreite Gesellschaft und den Ost-West-Konflikt.
„Wir haben alle bei dir abgeschrieben“ wiederholte der Sprecher der 68er-Studenten immer wieder. Er meinte nicht Wittfogels frühe revolutionäre Sprechchorstücke, nicht seine literaturtheoretischen Aufsätze in der Linkskurve, auch nicht sein Buch über seinen KZ-Aufenthalt - wahrscheinlich das erste Buch zum Thema -, sondern er meinte das Werk des Renegaten, den Herbert Marcuse einen Denunzianten genannt hatte. Ob der Vorwurf, Wittfogel habe als Emigrant in der McCarthyzeit Kollegen, Freunde, ehemalige Genossen angezeigt, stimmt oder nicht, schien Rudi Dutschke nicht zu interessieren. Er war voller Verehrung für den Sozialhistoriker Wittfogel.
Dessen Forschungen in und über China, die er am Frankfurter Institut für Sozialforschung, wo er als KP-Funktionär einigermaßen isoliert war, begonnen hatte, haben ihn zu einem Klassiker der Sozialgeschichte gemacht.
„Ägypten ist ein Geschenk des Nils“, schrieb Herodot, Wittfogel ergänzte: die ersten großen zentralistischen Staatsbildungen sind entstanden, um die Beherrschung des Wassers zu organisieren. Was Herodot am Nil entdeckte, untersuchte Wittfogel am Yangtsekiang. Die Herausbildung einer Beamtenschaft, die darauf achtet, daß das kostbare Naß - unter der Diktatur eines Gottkönigs gesamtgesellschaftlich genutzt und rationiert wird, die Entstehung von Kasten, die die Gestirnsbewegungen und das Ansteigen und Absinken der Flüsse beobachten, Prognosen anstellen, den Einsatz von Arbeitskräften ökonomisch rationell dirigieren, das alles sind Entwicklungen, die die frühen Hochkulturen an Yangtsekiang, Indus, Euphrat und Tigris, Nil gemeinsam auszeichnen vor ihren Nachbarn.
Wittfogel nannte diesen Typ von Staatlichkeit und Gesellschaft „Orientalische Despotie“. Er knüpfte damit an Marx‘ Konzept der „asiatischen Produktionsweise“ an, widersprach so der stalinistischen Dogmatik vom ehernen Gang der Weltgeschichte durch Urkommunismus, Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus zum Kommunismus und setzte dem ganzen die Krone auf, indem er das Sowjetsystem als einen mörderischen Versuch der Modernisierung innerhalb einer orientalischen Despotie charakterisierte. Genau hier habe er angeknüpft, wurde Dutschke nicht müde zu betonen, und er entschuldigte sich bei Karl August Wittfogel, daß er es nicht in aller Offenheit und nicht offensiv getan habe, sondern nur verschwiegen, unter der Hand. Wenn heute über Europa diskutiert und von einigen Intellektuellen z.B aus der CSSR und Polen die Sowjetunion als asiatischer Moloch dargestellt wird, so hat dafür Wittfogel, vor allem in den Jahren des kalten Krieges, einige Munition geliefert. Die zum Teil dummdreiste Instrumentalisierung seiner Forschungsergebnisse darf aber nicht dazu führen, daß wir aufhören, ihn zu lesen.A.W.
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