: Pekinger Studenten auf der Straße
■ Nach Ermordung eines Kommilitonen demonstrierten 2.000 Studenten / Rücktritt des Sicherheitsministers, Demokratisierung und wahrheitsgemäße Berichterstattung gefordert / Persönliche Sicherheit nicht gewäh
Pekinger Studenten auf der Straße
Nach Ermordung eines Kommilitonen demonstrierten 2.000
Studenten / Rücktritt des Sicherheitsministers,
Demokratisierung und wahrheitsgemäße Berichterstattung
gefordert / Persönliche Sicherheit nicht gewährleistet
Peking (taz) - Donnerstag, 2.Juni, 23 Uhr: Auf dem Campus der Peking-Universität sammeln sich mehrere Hundert Studentinnen zu einem Demonstrationszug, der unter dem Stakkato dreier auf Fahrräder montierter Trommeln und skandierten Parolen rasch auf runde 2.000 Teilnehmer anwächst, auch wenn die nächstgelegenen Hochschulen und Institute die Tore schließen, um ihren Studenten die Teilnahme unmöglich zu machen. Vorneweg die roten Fahnen der Fakultäten für Physik und Jura, deren Studenten die Demonstration initiiert haben. Ziel ist der Tiananmen-Platz im Zentrum der Stadt - seit jeher Schauplatz politischer Kundgebungen. Direkt nebenan befindet sich der Sitz der Zentralregierung. Anlaß für den spontanen Protest ist der Tod des 22jährigen Physikstudenten Chai Qingsfeng, der in der Nähe der Peking-Uni von betrunkenen „Rowdies“ angegriffen und so schwer verletzt wurde, daß er noch am Abend im Krankenhaus verstarb. Bereits im letzten Jahr wurde auf dem Campus der Peking-Uni ein Student erstochen. Auch damals hatten Studenten in einem Demonstrationszug gegen mangelnde Sicherheitsvorkehrungen protestiert. Der für schuldig befundene Täter wurde kurze Zeit später hingerichtet.
Mit dem Protest an der politisch renommiertesten Universität äußert sich nicht nur spontane Empörung. Die besonders in Peking wachsende Gefährdung der persönlichen Sicherheit gehört zu den fundamentalen Problemen der chinesischen Gesellschaft. Es besteht kein Rechtsstaat, keine Rechtssicherheit, die Gesetzgebung unterliegt laufenden Revisionen und Reformen, und die ansonsten für ihre Selbstherrlichkeit bekannte Polizei ist oft unauffindbar, wenn es um die Erfüllung ihrer Aufgaben geht. Der Telefonnotruf 114 ist, wie auch die taz feststellen konnte, eine reine Farce, weil im Präsidium der Polizei niemals jemand abhebt.
Nach vierstündigem Marsch erreichen die Demonstranten, auf circa 600-700 geschrumpft und inzwischen von Polizeiwagen und Zivilspitzeln begleitet, um drei Uhr morgens den Tiananmen, wo sie vom alarmierten stellvertretenden Bürgermeister Pekings per Megaphon aufgefordert werden, an die Uni zurückzukehren - zumal alle sicherlich müde seien. Im übrigen seien bereits zwei Verdächtige festgenommen worden. Die Studenten schenken dem jedoch keine Beachtung, an eine Verhaftung der Täter mag zu diesem Zeitpunkt niemand glauben. Sie ziehen weiter zum nahegelegenen nationalen Ministerium für Sicherheit. Während eine Abordnung von Studentensprechern im Ministerium mit diensthabenen Beamten spricht, versucht draußen der 1.Sekretär des ständigen Komitees des Pekinger Stadtparlaments die Demonstranten mit leeren Floskeln und vagen Versprechungen abzuspeisen. Er erntet dafür nur höhnische Zwischenrufe. Wieder wird skandiert: „Gegen Bürokratismus“, „Schutz für die persönliche Sicherheit“, „Verstärkt das Rechtssystem“, „Demokratisierung jetzt“.
Inzwischen ist die Abordnung zurück und verkündet vier zentrale Forderungen: 1. Sofortige Ergreifung der Täter 2. Öffentliche Vorführung der Täter an der Peking-Uni 3. Wahrheitsgemäße Berichterstattung der Medien statt wie sonst Tatsachenverdrehung und Verschweigen. 4. Sofortige Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit der Person. Gegen 3.30 Uhr bringen Busse der Peking-Uni die Demonstranten zurück, eine Hundertschaft Polizei trabt zurück in die Kaserne. Die größte Studentendemo seit einem Jahr ist (vorläufig) vorüber. Auf großen Wandzeitungen in der Pekinger Uni wird der Rücktritt von Way Fang, dem Minister für öffentliche Sicherheit, gefordert.t.r.
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