Alltag bei Kubats: Fast wie im richtigen Leben

■ Das Niemandsland an der Mauer ist längst kein Niemand mehr / Eine Utopie auf Zeit mit Provisorien und Un- und Halbfertigem bestimmt den Alltag / Die BesetzerInnen leben am "Ho-Chi-Minh-Pfad"

Alltag bei Kubats: Fast wie im richtigen Leben

Das Niemandsland an der Mauer ist längst kein Niemand mehr / Eine Utopie auf Zeit mit Provisorien und Un- und

Halbfertigem bestimmt den Alltag / Die BesetzerInnen leben am „Ho-Chi-Minh-Pfad“ nicht anders als in Rest-Berlin

Es ist eine fremde und seltsame Welt. Der Fernsehturm am Alexanderplatz ragt in den blauen ostdeutschen Himmel, rechts daneben ragt das Springerhaus in den genauso blauen westdeutschen Himmel, diese beiden Himmel zerschneidend zieht sich die Betongrenze um den Mythos Berlin: Die Silhouette Deutschlands, wie sie sich von einem fragilen, aus Holzresten zusammengezimmerten Turm im besetzten Norbert -Kubat-Dreieck darbietet.

Berlin entfliehen kann man an genau zwei Notausgängen, das Kubat-Dreieck betreten kann man ebenfalls an genau zwei Zugängen. „Achtung! Sie verlassen jetzt den Polizeistaat“, warnt eine besprühte Mülltüte den Besucher an „Mauer Zwei“. Umgeben von Drahtgittern und Polizeiwannen: ein paar Dutzend Hütten und Zelte, die die BesetzerInnen aus Holzplanken, Pappe, Plastikfolien und anderen (Über)-Resten urbaner Zivilisation errichtet haben - ein Patchwork aus Fragmenten einer Welt, der man den Krieg erklärt hat.

Die Häuser und Wege tragen die Namen der revolutionären Idole, deren Ideen hier und jetzt nichts mehr taugen: „Ho -Chi-Minh-Pfad“, „Rudi-Dutschke-Haus“, „Che-Pfad“. „Sous les paves, il ya la plage“: „Um den Strand unter dem Pflaster zu sehen, müssen wir erst das Pflaster abräumen.“

Stacheldraht, Gitter, Zäune, Wälle und Gräben - die BesetzerInnen rüsten sich für den Kampf am 1. Juli, wenn der Polizeistaat auch auf diesen 40 Hektar Land regiert: „Geräumt wird auf jeden Fall, die Autobahn wird auf jeden Fall gebaut. Das war doch schon immer so, egal, ob es Tote und Verletzte gab“, weiß jeder um die eigene Ohn-Macht, und gerade weil das jeder weiß, macht jeder weiter. Die Utopie auf Zeit macht den eigentlichen Sinn dieser Besetzung aus, nicht die Hoffnung auf faktische Veränderung der Wirklichkeit.

Das Provisorische, Vorübergehende, Unfertige regiert hier zwischen einer strikt musealen Umgebung: In der Staatsbibliothek verschimmeln die Ideen der letzten Jahrhunderte, in der Philharmonie pflegt man das Ideal der universellen Harmonie, am Brandenburger Tor träumen diejenigen, die Deutschland geteilt haben, von der Wiedervereinigung und das Filmhaus Esplanade dient nur noch als Kulisse.

Über das Leben hier im Hüttendorf sollte ich ja eigentlich schreiben, was die Leute so den Tag machen, vielleicht ein paar Gesprächsfetzen auffangen (Authentizität!) - Guten Tag, lieber Besetzer, ich bin der Journalist und möchte wissen, was, warum und überhaupt ihr hier macht.

Authentisch sind die Menschen, Tiere und Pflanzen hier im Dorf, authentisch ist nichts, was ich darüber schreiben könnte. Was soll hier schon besonderes passieren, außer daß die Leute hier leben? Morgens gehen sie zur Schule oder zur Arbeit (oder auch nicht, fast wie im richtigen Leben), wenn es was zu essen gibt, rennt alles in die Volxküche; irgendwann gibt es dann nur noch Brot mit Margarine und ab und zu auch gar nichts. Abends hocken die Menschen hier in kleinen Gruppen zusammen, erzählen dies und jenes, schreien sich an oder umarmen sich (fast wie im richtigen Leben); irgendjemand kocht, irgendjemand spült, irgendjemand kauft ein (fast wie im richtigen Leben).

Am Brandenburger Tor wehen die Fahnen der Deutschen Demokratischen Republik und die der Sowjetunion, am Reichstag die der Bundesrepublik Deutschland und am Kubat -Dreieck die Totenkopffahne. Über diese Totenkopffahne haben die BesetzerInnen ein winziges Fähnchen der britischen Besatzungsmacht gehängt. Über den ostdeutschen Himmel fliegt ein Flugzeug der „PanAm“. Wem gehört das Kubat -Dreieck?Thomas Langhoff