Kontrolle verloren

■ UdSSR in der Zwickmühle des Nationalitätenkonflikts

K O M M E N T A R Kontrolle verloren

UdSSR in der Zwickmühle des Nationalitätenkonflikts

Eine verzwickte Lage, in der sich die sowjetische Parteiführung jetzt befindet. Mit dem einstimmigen Votum des armenischen Obersten Sowjet für die Angliederung von Berg -Karabach, das offensichtlich den Wunsch der gesamten armenischen Bevölkerung in der Sowjetunion zum Ausdruck bringt, sind jetzt Forderungen auf dem Tisch, die nicht mehr wie im Februar übersehen werden können. Damals hoffte man in Moskau noch, mit Zuckerbrot und Peitsche die aufmüpfige Region Berg-Karabach zum Schweigen zu bringen. Heute ist die Bevölkerung der Sowjetrepublik Armenien bereit, für dieses Ziel auch einen Generalstreik zu riskieren. Und in Berg -Karabach selbst rufen viele schon nach Waffen zur Selbstverteidigung. Für die Armenier gibt es offenbar kein Zurück mehr.

Aber auch in Aserbeidschan sind die Fronten nicht durchlässiger geworden. Trotz der Versuche der aserbeidschanischen Partei, durch Umbesetzungen an der Führungsspitze und durch Appelle an die Bevölkerung den „nationalistischen Stimmungen“ Herr zu werden, ist bei der Abstimmung am Freitag im Obersten Sowjet dieser Republik ein ebenso breit getragener Beschluß für den Verbleib Berg -Karabachs zu erwarten. Denn die Partei dort würde bei einem Nachgeben gegenüber Armenien neue nationalistisch motivierte Aufstände riskieren und die „Kontrolle“ über die Massen verlieren. Die Informationen über erneute Übergriffe von Aserbeidschanern gegen in ihrer Republik lebende Armenier sind jedenfalls in den letzten Wochen und Tagen nicht abgerissen. Für eine Abtrennung von Gebieten schreibt die sowjetische Verfassung aber die Zustimmung der betroffenen Republik vor.

So kann sich die sowjetische Führung nicht mehr um eine Stellungnahme in dem kaukasischen Konflikt drücken. Wenn auch mit der neuen Pressepolitik über die Massaker in Sumgait seit dem Februar im Sowjetstaat den Armeniern Sympathien zugewachsen sind und das damals vorherrschende Schweigen und Vertuschen durchbrochen ist, so daß die erschreckte Öffentlichkeit das gesamte Ausmaß der Pogrome vor Augen hat, bleiben die Karten der Armenier schlecht. Denn noch immer gibt es keine neue Nationalitätenpolitik in der Reform-Ära. Ein zu weit gehendes Zugeständnis könnte auch nach Meinung vieler Perestroika-Anhänger zu unkalkulierbaren Risiken in anderen Regionen führen. So zeichnet sich eine Linie ab, die der Region einen eigenen Status mit mehr Rechten zugesteht, den Anschluß an Armenien aber ausschließt.Erich Rathfelder