„Mann, ist der süüß, ey!“

■ Vor dem Berliner Reichstag ließen sich 40.000 Fans von Michael Jackson begeistern

'Bild‘ wußte es wieder einmal genau: 284 Fans „wurden ohnmächtig vor Liebe“, 23 kamen mit Blaulicht in die Klinik. Dennoch: Der Platz vor dem Berliner Reichstagsgebäude, unmittelbar an der Mauer, füllte sich bei weitem nicht. So ließen die Veranstalter denn nach einer Stunde auch alle hinein, die keine Karte für 52 Märker kaufen konnten oder wollten. Rund 4.000 Fans hofften derweil auf der Ost-Seite der Mauer vergeblich, der Westwind würde ihnen wenigstens Fetzen der Songs herübertragen. Voller war es zur gleichen Zeit im Ostberliner Radrennstadion Weißensee , wo 120.000 dem Debüt von Katharina Witt als Rockmoderatorin lauschten.

Zwei Liter, sechs Mark, das ist reell, und die Colaflasche ist aus Plastik, das kann man mit reinnehmen. Wer klug ist, versorgt sich an den letzten Getränkeständen vor den drei Kontrollen und der polizeilichen Leibesvisitation.

Der Reichstagsrasen sieht nach Europarummel und Pink Floyd aus wie nach einem Steppenbrand. Stellenweise klafft blanke plattgetretene Erde. Um halb sechs, zweieinhalb Stunden vor Konzertbeginn, ist das Areal zu einem Drittel gefüllt. Viel voller wird es nicht, vielleicht 30- oder 40.000. Gekommen sind: kleine Angestellte aus Reinickendorf, geschiedene Väter mit neunjährigen Söhnen, Erstsemester aus Neukölln, ein paar „VIPs“ - das sind Diskothekenbesitzer und Werbefritzen mit Sekretärin, die für ihre Karten 200 statt 50 Mark gezahlt haben und dafür auf einer kleinen Tribüne sitzen dürfen, viele Türken, viele recht hellhäutige Schwarze mit lockiger Matte und - je näher man der Bühne kommt, desto mehr - Mädchen.

Der Bühnenaufbau ist wohl 50 Meter breit, schwarz, rechts prangt groß Michael Jacksons Emblem. Seine Füße in schwarzen Slippern auf Zehenspitzen, die Waden eingeknickt, so bremst er seine Tanzbewegungen. Rechts und links der Bühne zwei Videoleinwände. Für Kim Wilde, die das Vorprogramm bestreitet, werden sie nicht eingeschaltet. Es ist noch zu hell. Kim Wilde wirkt mit ihrer kleinen Gruppe auf der Bühne ein bißchen verloren, aber sie schafft es, das Publikum an und mitzuziehen.

Die Sonne geht unter, der Mond auf. Dann erweist sich folgendes: Michael Jackson existiert! Es gibt ihn! Eine Lichtwand fährt hoch, eine Magnesiumbombe explodiert. Mädchen stöhnen: „Oh nein!“ Das Stück heißt Wanna be starting somethin', es ist eines der schnellsten vom Thriller-Album. Durch einen Wald von Köpfen gewahrt man eine Gruppe kleiner zappelnder Figuren, eine davon in schwarzer Lederkluft. Das ist der Beweis: Die Videowand beweist, daß das schwarze Männchen tatsächlich Michael Jackson ist, und das schwarze Männchen beweist, daß wir Michael Jackson tatsächlich live erleben und nicht auf Video. Denn die beiden bewegen sich vollkommen synchron. Wir winken ins Video.

Das nächste Stück ist eine sehr leise und traurige Ballade. Michael Jackson geht langsam über die Bühne, in der Linken das Mikrophon, mit der Rechten faßt er sich in den Schopf. Er kräuselt die kleine, im Profil übrigens grotesk spitze Nase und fletscht die Zähne. Er kniet nieder und birgt das Gesicht in der Hand. Die Musik hört auf, aber mitten im Stück. Jackson verharrt in seiner Pose, die ein bißchen an Rodins Denker erinnert. Die Stille ist verunsichernd lang. Hat Michael Jackson die Fassung verloren? „Der heult echt voll ab! Mann, is der süüß ey! Michael, komm runter, ich will dich trösten!“ schreit ein Mädchen.

Wer Jacksons Autobiografie gelesen hat, weiß, daß Jackson nichts mehr fürchtet als dieses gierige Mitleid: „Tausend Hände greifen nach dir. Ein Mädchen verrenkt dir das Handgelenk, während ein anderes die Uhr abstreift. Sie greifen nach deinen Haaren, und es brennt wie Feuer. Du fällst irgendwo gegen, und die Schrammen sind schrecklich. Ich weiß genau, in welcher Stadt ich mir welche Narbe zugezogen habe. Es ist wichtig, daß man seine Augen mit den Händen abschirmt, weil die Mädchen in ihrer Hysterie vergessen können, daß sie Fingernägel haben.“ (Moonwalk, Goldmann, S.76)

Ein kleiner Schluchzer, und die sanfte Musikmaschine setzt wieder ein. Jackson steht auf und wandelt traurig singend weiter.

Vor der Bühne ist eine Rampe, etwas tiefer gelegen. Darauf stehen wohl fünfzehn Ordner. Ab und zu überwindet ein Mädchen die Barriere. Dann kommt ein Ordner und hievt die oft Ohnmächtige behutsam zurück. Ausgerechnet bei dieser Ballade aber schafft es eine, vielleicht sind die Ordner auch nur angewiesen, diese eine Glückliche durchzulassen. Sie steht mit hängenden Schultern am Bühnenrand. Jackson tritt hinzu, umarmt sie und singt an ihrem Kopf vorbei weiter. Sie krampft sich kurz an ihm fest. Das ist der dritte Beweis: Jackson ist ein Wesen aus Fleisch und Blut. Er scheint sie ins Bühneninnere ziehen zu wollen. Aber dann kommt ein großer schwarzer Mann in schwarzem Anzug mit Zylinder und führt sie weg.

Worin Michael Jacksons Sex-Appeal bestehen mag, bleibt schleierhaft. In den schnellen Stücken sind seine Bewegungen zugleich zierlich und ruckhaft. Oft greift er sich allerdings auch an den Sack und stößt mit dem Becken. Die Bewegung wirkt angelernt und nachgeahmt, gerade darum aber obszön - wie eine hübsche kleine Puppe, die ein unflätiges Wort sagt, wenn man ihr auf den Bauchnabel drückt. So ist Jackson zugleich künstlich, sauber und knuddelig, „süß“ und „geil“, und die Mädchen weinen und singen mit, Wort für Wort, inklusive der kleinen Schreie und Verzierungen.

Die rasanteste Nummer ist Smooth Criminal: Jackson und die Tänzer in Al Capone-Jacketts und Hüten, ein irrwitzig leichter und schneller Karatetanz, Maschinengewehrfeuer und Schluß. Der Text: „He came into your apartment/Left bloodstains on the carpet/Then you ran into the bedroom/You were struck down/It was your doom - Annie!/Aoww!!“ Jackson besingt den Tod eines Mädchens.

Thierry Chervel