R I C H A R D H U E L S E N B E C K

■ P O T S D A M E R P L A T Z

Ich ging zum Potsdamer Platz, stand bei der Blumenfrau neben dem kleinen Wachhäuschen, wo die Zeitungshändler ihr Geschäft aufgeschlagen haben. Wieviel Erinnerungen knüpften sich für mich an diesen Potsdamer Platz! Hier hatte ich schon eine Revolution erlebt, damals, als die deutsche Armee zusammengebrochen war und die Arbeiter unter einem Volks und Soldatenrat die Macht ergriffen hatten. Zwischen dem Potsdamer Platz und dem Reichstag hatte sich damals, als ich Mitglied des „Rates geistiger Arbeiter“ war, mein Leben abgespielt. Hier, in der Budapester Straße, waren wir vor den Schüssen der Offiziersbanden geflüchtet. Im „Cafe Vaterland“ hatten wir getagt. Im „Hotel Fürstenhof“ hatten wir uns versteckt. Dort drüben im „Cafe Josty“ hatte ich mit Hiller, Rudolf Leonhard und Tucholsky oft zusammengesessen, und wir hatten fest an die Zukunft der deutschen Republik geglaubt. Rudolf Leonhard hatte damals ein Buch geschrieben: „Der Kampf gegen die Waffe“. Er war ein fanatischer Pazifist und bildete sich ernsthaft ein, man könne die Waffen und damit den Krieg aus der Welt schaffen. Was für ein Idealismus! Wie sahen wir damals die Welt! Bei Gott, wir waren Kinder, wir hatten zuviel Homer, Horaz und Goethe gelesen. Niemals hatten wir an den letzten blutigen Ernst dieser ganzen menschlichen Existenz gedacht. Niemals war es uns ganz zum Bewußtsein gekommen, daß der Mensch nur durch schwache moralische Gesetze von Mord und Krieg zurückgehalten wird. Ja, wir als Deutsche hatten keinerlei Ahnung vom Charakter unseres eigenen Volkes gehabt... Der Grundirrtum war, daß wir die Deutschen für das Volk Schillers und Goethes hielten, während sie in Wirklichkeit immer das Volk Friedrichs des Großen gewesen sind. Die Deutschen sind immer ein Soldatenvolk gewesen, der ewige Frieden war ihnen nie eine angenehme Vorstellung. Und in diesem Volk, angesichts der Verhältnisse, in der sich diese Welt befindet, in einem der aufregendsten Momente der menschlichen Geschichte hatte jemand versucht, einen Kampf gegen die Waffe in seiner wirklichen und symbolischen Bedeutung zu führen. Was für ein Idealismus! ...

Ich ging die Stufen der Untergrundbahn hinunter, kaufte mir ein Billet und setzte mich wartend auf eine der Bänke, die dort neben den Gleisen aufgestellt waren. Dann kam der Zug, vollgefüllt mit Menschen aller Art, unter ihnen zwei Frauen mit Hakenkreuzabzeichen...

„Reise bis ans Ende der Freiheit“ ist der Titel der autobiographischen Fragmente, die zehn Jahre nach dem Tod Richard Huelsenbecks 1984 veröffentlicht wurden. Es handelt sich um den Jahreswechsel 1932/33. Ausgewählt von

Michael Trabitzsch