DAS VERLORENE PUBLIKUM

■ Ein Gang zu Kaiser Augustus und die verlorene Republik im Martin-Gropius-Bau

Rom - eine kleine italische Stadt, die innerhalb von 500 Jahren ein Herrschaftsgebiet zusammenraffte, das von Frankreich bis Ägypten, von Marokko bis Armenien reichte, Augustus, der über all das herrschte, mit dem das Kaiserreich, die pax romana anfängt, und der Martin -Gropius-Bau, der wie kein anderer Raum geeignet ist, die Ausstellung über diese Zeit zu zeigen. Ein großer Fehler ist es, mit dem Fahrstuhl vom Untergeschoß ins Hochparterre zu fahren, denn beim Aussteigen wird man schier erschlagen von der Riesigkeit der Räume und des Dargestellten. Um einen Durchmarsch durch die Hinterlassenschaften dieser 2.000 Jahre alten Kultur zu sehen, braucht man bis zum 18. August nicht mehr die Museen von ganz Europa abzureisen. Riesige Marmorbrocken und groschengroße Goldmünzen sind verteilt auf Ausstellungsräume mit Themen wie „Religionspolitik“ oder „Germanien“.

Drückt man sich am Eingang nach rechts, so trifft man unversehens auf IHN (den Augustus von Prima Porta) - und tritt unwillkürlich einen Schritt zurück. In voller Rüstung steht dort ein junger Mann, Standbein-Spielbein, über -lebensgroß, hält den rechten Arm ausgestreckt - aber nicht so, wie es hier vor 500 Jahren üblich war. Er scheint einen Speer in der Hand gehabt zu haben, den er leicht und ohne Anstrengung umfaßt hielt. Ein Feldherr, der eine Ansprache an seine Truppe hält und der so wenig kriegerisch wie möglich erscheinen wollte, denn das rief bloß Erinnerungen an die Schrecken des Bürgerkrieges hervor, deshalb auch keine Schlachtszenen auf seiner Rüstung, sondern ein diplomatischer Erfolg: die Personifikation des gefährlichsten Gegners, der das Gebiet des heutigen Irak und Iran beherrschenden Parther, übergibt der Personifikation Roms die Feldzeichen, die die Parther 30 Jahre vorher bei der Vernichtung einer römischen Armee erbeutet hatten. Propaganda, na klar, wer würde bei Staatskunst auch etwas anderes erwarten.

Also lieber erstmal nach links. Da steht man vor einem großen runden Ding mit einer Spitze drauf und zerbrochenen Reliefstücken. An der Wand hängen zwei Abbildungen von Reliefs, auf denen zu sehen ist, wie sich eine Gruppe von Menschen in eine Richtung bewegt, gemächlich und ohne Hast, miteinander plaudernd. Hilfesuchend wendet sich der Blick an die Wände, nach einer Erklärungstafel suchend. Es handelt sich um die Reste einer Sonnenuhr und der Ara Pacis, dem Friedensaltar, auf dem Relief ist eine Prozession von Angehörigen der Familie des Augustus, vermutlich zur Einweihung dieses Heiligtums. Ständig geht der Blick von dem kleinen Modell zu den Originalen und zurück. Es ist mühsam, die Bruchstücke dieses noch ziemlich gut erhaltenen Bauwerks zusammenzusetzen und sich die verlorengegangenen Teile dazuzudenken. Es gibt noch dutzende solcher Bauwerke und Arrangements, und nach dem dritten oder vierten Mal gibt man schließlich auf und wundert sich nur noch über die Portraits römischer Adliger und deren ehemalige Sklaven, die ihren Herren nachzueifern suchen. Man grinst über den Mut zum Naturalismus bei derartig abstehenden Ohren, belächelt die merkwürdigen Knotenfrisuren der Frauen.

Für Leute ohne klassische Vorbildung dürften die Wissenslücken zu groß sein, es bleibt das Staunen oder die Zur-Kenntnisnahme von Kuriositäten. Der kiloschwere Katalog für 35 DM hilft da auch nicht weiter. Es ist ein Werk, das eine wertvolle Bereicherung der eigenen wissenschaftlichen Sammlung darstellt. In ihm äußern sich die Größen der deutschen und italienischen Archäologie, aber so, wie das klassische Archäologen nun mal tun: spekulativ, aber sorgfältig beim Klären von Detailproblemen und bei den Sinnzuweisungen - knochentrocken und völlig unanschaulich. Wer sich in Rom nicht so genau auskennt, steht alleingelassen vor der Nachbildung der Stadt: es gibt kein Knöpfchen, das neben dem „Pompeius-Theater“ steht, auf das man drücken und dann sehen kann, wo in dem Gewirr ein Lämpchen aufleuchtet.

Das hat seinen Grund. Diese Ausstellung war ursprünglich für Rom konzipiert, fand dort aber keinen angemessenen Ausstellungsraum. Die Berliner Archäologen nutzten diese Chance, machten im Rahmen von E-88 die nötigen Mittel locker und holten die Ausstellung nach Berlin.

„Wenn wir uns in Berlin diesem Thema zuwenden“, schreibt Wolf-Dieter Heilmeyer, Professor am Archäologischen Institut der FU, im Vorwort des Ausstellungskatalogs, „entspricht das einer jahrhundertealten Tradition, von hier aus klassische Themen und Monumente zu betrachten. Wir wollen ihre Andersartigkeit gegenüber unserer Situation verstehen und aus dieser Andersartigkeit lernen.“ Wenn Wolf-Dieter Heilmeyer von einer jahrhundertealten Tradition spricht, in Berlin klassische Themen und Monumente zu betrachten, meint er damit das Wirken von Winckelmann und Schinkel. Der preußische Klassizismus hat uns nicht nur die Goldelse auf der Säule vermacht, eine Nachempfindung der Siegesgöttin Nike bzw. Victoria, sondern auch so manches Säulenimitat, das einem unvermutet an mancher Vorstadtvilla begegnet. Und wenn man in der Ausstellung versehentlich am anderen Ende die Treppe hinuntergelaufen ist, ist man unversehens von Figuren umstellt, die Schwerter-schwingend gen Mauer weisen: die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, von Schinkel in Auftrag gegeben.

Und doch: Der Rückgriff auf die Klassik ist aufgepfropft, die römischen Truppen sind nie bis Berlin gekommen, sondern haben an der Elbe umgedreht. Augustus‘ Plan, aus Norddeutschland bis zur Elbe eine römische Provinz zu machen, scheiterte an der Nachlässigkeit des Statthalters Quinctilius Varus, der sich mit seiner Armee von seinem germanischen Hilfstruppenführer Arminius in einen Hinterhalt locken ließ. Und weil es hier sowieso nichts zu holen gab, beließ man es bei ein paar Rachefeldzügen mit ausgiebigen Massakern und diplomatischer Einflußnahme. Zwar übte der Roman Way of Life auch östlich der Elbe seinen Einfluß aus, die Germanenfürsten umgaben sich mit allerlei römischen Accessoires, die ihnen auch mit ins Grab gegeben wurden (zu sehen in den hinteren Räumen der Ausstellung), aber weit reichte das nicht. Es war vielmehr umgekehrt: Die meisten der hier lebenden Germanen zogen zur römischen Kultur, in Gebiete, in denen es sich angenehmer leben ließ.

Es gibt in Berlin keine Tradition, klassische Themen und Monumente zu betrachten, außer der klassizistischen - und die beschränkte sich auf das Bildungsbürgertum. Wem der historische Hintergrund fehlt, ist in dieser Ausstellung weitgehend alleingelassen. Die Bruchstücke allein sagen nicht viel - wenn Heilmeyer in seinem Vorwort die Isoliertheit dieser Ausstellungsstücke mit den „nicht weniger isolierten Hinterlassenschaften der Aktionen von Joseph Beuys“, die vorher in diesen Räumen ausgestellt waren, vergleicht, dann ist das bestenfalls Wunschdenken, eigentlich aber eine billige Ausrede.

Die Andersartigkeit der römischen Kultur zur Zeit des Augustus äußert sich meistens in Erhabenheit - wie der Name schon sagt: „Augustus“ „der Erhabene“. Es fehlen Ausstellungsstücke wie Wandgraffiti von Pompej: 'Wählt Gaius Petronius zum Stadtrat - Wer dies abwischt, soll krank werden!‘ Statt dessen ist alles ganz monumental oder wenigstens furchtbar schöngeistig. Andacht ist angesagt, Ehrfurcht, Respekt und Staunen. Ja, ja - die Römer hatten's drauf. Eine klassische Archäologin nutzte diese Chance schamlos aus: Voller Leidenschaft, mit der ganzen Breite ihres Wissens referierte sie ihrem Geliebten über sämtliche Aspekte am Portrait eines sauertöpfisch dreinblickenden Senators der späten Republik, ohne sich vom um Gnade flehenden Blick ihres angebeteten Wesens rühren zu lassen.

Anschaulich ist es nur in wenigen Momenten, wenn da in den Räumen hinten rechts ein bis an die Zähne bewaffneter Muschkote in Lebensgröße und mit entsprechendem Gesichtsausdruck in der Ecke steht, ein Legionär, der leider gar nichts mit den sympathischen Besatzern gemein hatte, mit denen es Asterix und Obelix zu tun hatten. Die Wurflanze, die er in der Hand hält, hat eine fast einen Meter lange dünne Eisenspitze, und man kann sich gut vorstellen, wie so ein Ding einen Leib durchbohrt und nicht eher steckenbleibt, bis die Spitze hinten wieder rauskuckt. Das ebenfalls zur Grundausstattung gehörende Schwert, das in einer Vitrine nebenan noch genauer zu betrachten ist, hat eine schön lang ausgezogene Spitze, es ist kurz und handlich, ein Knauf verhindert, daß es aus der Hand rutscht - damit läßt es sich wirklich hervorragend massakrieren, und es wird klar, daß Krieg und Schlacht damals noch etwas mehr mit „Schlachten“, also Handwerk, zu tun hatte. Wenn man sich nun 5.000 von denen, eine Legion, auf einem Haufen vorstellt, kann man sich gut denken, was die für ein Unheil anrichten können. Dann wird auch klar, warum in einer Episode der Apostelgeschichte in der Bibel ein Stadtrat der kleinasiatischen Stadt Ephesos einen Krawall mit einem einfachen Hinweis auflösen konnte: 'Hört zu, Leute - wenn der Statthalter erfährt, was hier los ist, schickt er seine Truppen!‘ Darunter konnten sich alle nur das Schlimmste vorstellen: Blutbad, Vergewaltigung, Geschäftsschädigung. Selbst die Kaiser hatten Angst vor ihren Soldaten, die nur zu genau wußten, daß letztlich auf ihnen seine Macht beruhte. Augustus‘ Nachfolger Tiberius sagte, daß er einen Wolf bei den Ohren halten müßte.

Die Andersartigkeit gegenüber unserer Situation verstehen und aus dieser Andersartigkeit lernen - das geht nicht, wenn der entsprechende Hintergrund einfach vorausgesetzt oder der Erklärungsbedarf eines größeren Publikums mit wissenschaftlich korrekten Führungen abgefertigt wird. So etwas wie „Stattreisen“ in dieser Ausstellung wäre wünschenswert, sich drei Stunden Zeit nehmen und den Geschichten und Geschichtchen zuhören, die sich um die Ausstellungsstücke ranken - oder gerankt haben könnten. Dann würde vielleicht der versteckte Witz oder die bodenlose Gemeinheit, die in so manchem Exponat verborgen ist, oder die solide Doppelmoral, die auch hier staatstragendes Element war, offenbar werden. Dann sähe der wohlbeleibte Bundesbürger, civis einer deutschen Stadt, der dem civis romanus auf gleicher Höhe ins hagere, von lauter Sorge um den Staat zerfurchte Antlitz blickt, in Wahrheit gar nicht so unähnlich...

Michael Vahlsing