piwik no script img

Camping übers ganze Jahr

■ Wohnmobile als ständiges Domizil in der Kreuzberger Wilhelmstraße

Frischgewaschene Unterhosen auf der Wäscheleine flattern im Wind, der über das Gelände in der Kreuzberger Wilhelmstraße gegenüber dem Thommy-Weissbecker-Haus fegt. Die Wiese ist vollgestellt mit bunt angemalten Bauwagen, ausgedienten Lastwagen aus den fünfziger Jahren und alten Reisebussen. Tische und Stühle stehen, von Sonnenschirmen beschattet, in den „Vorgärten“. Ein Kind buddelt im Sand, aus irgendeinem Kofferradio dudelt Musik - Kleingartenidylle.

Um die 20 Fahrzeuge sind es, die - zu Wohnmobilen umfunktioniert - den etwa 35 BewohnernInnen und sieben Hunden als ständiges Domizil dienen. Auch einige übriggebliebene BesetzerInnen aus dem 1984 geräumten „Kuckuck“ am Askanischen Platz leben hier. Seit April stehen die Wagen auf dem Gelände, vorher residierten die FrischluftfanatikerInnen neben dem Thommy-Weissbecker-Haus, bis dort eine Baustelle errichtet wurde.

„Hier wohnen ganz normale Leute, wir sind keine Radikalen“, erklärt ein Familienvater um die 40, der es sich mit einer Flasche Bier auf einem ausrangierten Autosessel vor seinem Reisebus bequem gemacht hat. „Kinder, Studenten, Arbeiter, ein Ingenieur und ein paar Arbeitslose bilden hier so 'ne Art große Wohngemeinschaft.“ Alle sind irgendwo polizeilich gemeldet, über die Hälfte von ihnen hat eine feste Arbeitsstelle. Obwohl hier kein Mensch Miete zahlt, ist von BesetzerInnenideologie nicht die Rede: „Wir würden ja gerne zahlen, aber der Senat gibt uns keinen Mietvertrag.“ Das Land Berlin will hier nämlich bauen, aber davon ist bisher noch nichts zu bemerken.

Trotzdem bemühen sich die BewohnerInnen um ein neues, festes Freiluftdomizil, wo sie zur Miete wohnen können. Über 30 geeignete Plätze haben sie in Berlin ausfindig gemacht, „aber kein Amt fühlt sich für uns zuständig.“

In der freien Natur wollen sie auf jeden Fall wohnen bleiben. Der Familienvater braucht frische Luft: „In so'm Betonklotz würde ich ersticken.“ Das wollte auch der Typ mit dem schwarzen Lockenkopf nicht, der vorher mit seiner Familie in einer Neubauwohnung für 900 Mark Miete gehaust hat. Auch seine Kinder sind hier glücklicher und die Hunde sowieso.

Die beengten Verhältnisse in den Wohnwagen scheinen hier niemanden zu stören: „Qualität, nicht Quantität zählt, wa!“ Außerdem haben die BewohnerInnen auf dem Platz alles, was sie brauchen. Die Bewag hat eine Stromleitung gelegt, und Wasser beziehen die Leute gegen Entgelt aus einem angrenzenden Haus: Mitten auf dem Platz steht eine Spüle mit Gartenschlauchanschluß, das Wasser fließt in eine Sickergrube ab. „Die Müllbeseitigung ist ooch jerejelt, da kümmern wir uns selber drum, weil die Müllabfuhr ja nich zuständig sein darf.“ Im Weissbecker-Haus gegenüber können sie duschen und aufs Klo gehen und zahlen dafür alle zusammen 150 Mark im Monat. Demnächst wollen sie sich aber einen Toiletten- und Duschwagen anschaffen, „für den Fall, daß wir mal woanders hinziehen, wo die sanitären Voraussetzungen nicht so gut sind wie hier“.

Die Leute vom Platz leben mit den AnwohnerInnen in friedlicher Nachbarschaft. „Mit den Bullen ham‘ wa ooch nüscht zu tun.“

Nur der Kreuzberger CDU ist ihre Art zu wohnen seit langem ein Dorn im Auge. Ein entsprechender Antrag auf sofortige Räumung ist jedoch vorgestern von SPD und AL in der Bezirksverordnetenversammlung abgelehnt worden. „Vorläufig besteht erstmal keine Räumungsgefahr mehr“, erklärte Baustadtrat Orlowsky. Wenn der Senat zu bauen beginnt, müssen die Leute jedoch runter vom Platz. Wohin, vermag Orlowsky auch nicht zu sagen. Auf das Bauvorhaben habe der Bezirk keinen Einfluß mehr und freie Plätze in Kreuzberg gebe es auch nicht. „Die anderen Bezirke müßten sich jetzt darum kümmern. Freie, nicht planungsgebundene Flächen gibt es ja genug in den Außenbezirken.“

Ein Bewohner des Geländes versucht, die miserable Lage satirisch zu nehmen: „Wenn hier wirklich geräumt wird, und wir keinen neuen Platz kriegen, stellen wir uns eben notfalls auf die Wilhelmstraße. Die Autos sind schließlich versichert und versteuert, also dürfen sie da auch stehen!“

Kathrin Elsner

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen