Estlands Delegierte mit schwerem Gepäck

■ 100.000 Esten verabschiedeten ihre Delegierten zur Allunionskonferenz der KPdSU / Die Delegierten werden eine sehr weitgehende wirtschaftliche, kulturelle und politische Autonomie fordern - bis hin zu eigener Staatsbürgerschaft und der Erhebung eigener Zölle

Berlin (dpa/ap/taz) - Nicht nur die Wählerinitiative „Volksfront von Estland“, sondern die Gesamtheit der estnischen Abgeordneten zur 19.Parteikonferenz haben jetzt eine Plattform vorgelegt, in der eine sehr viel weitergehende wirtschaftliche, kulturelle, politische und juristische Autonomie der Ostseerepublik, einschneidende ökologische Maßnahmen und Schutz vor ethnischer Überfremdung gefordert werden. Radio Moskau meldete, 100.000 Menschen hätten die 32 aus Estland nach Moskau reisenden Delegierten verabschiedet.

Eine Zusammenfassung von Wähleraufträgen, die sie auf der Konferenz einbringen sollen, wurden am 18.6. in der Parteizeitung 'Sowjetskaja Estonija‘ veröffentlicht: Mit Ausnahme der Rüstungsindustrie soll demnach die gesamte Preis-, Lohn-, und Investitionspolitik sowie die Kontrolle der Bodenschätze bis 1991 in eigene Hände genommen werden.

Die Plattform fordert unter Berufung auf Lenin eine neue Verwirklichung der Prinzipien des „sozialistischen Föderalismus“, dazu gehört der Anspruch auf eine eigene Staatsbürgerschaft, die Verankerung einer besonderen Staatssprache in der Verfassung und das Recht auf diplomatische Vertretungen im Ausland, ja sogar die Erhebung von Zöllen.

Zur Entscheidung wichtiger wirtschaftlicher und politischer Fragen schlagen die Delegierten die Einführung von Referenden „als höchstem Ausdruck des Volkswillens“ vor, zudem plädieren sie für die Etablierung eines Verfassungsgerichts, das die Beziehungen zwischen den 15 Unionsrepubliken untereinander und der Zentralregierung regeln solle. Das Richterkollegium sei paritätisch mit Vertretern aller Republiken zu besetzen.

In einem Interview mit der Regierungszeitschrift 'Iswestija‘ bezeichnete der erst vorige Woche gewählte estnische Ministerpräsident Vaino Väläs am Dienstag das Programm als „einzigartiges Dokument“ und wies daraufhin, daß es unter Beteiligung mehrerer inoffizieller Gruppen, darunter auch von Umweltschützern, ausgearbeitet worden sei.

Parallel zu diesen Vorgängen haben in der Nachbarrepublik Lettland Hunderte von Intellektuellen eine Resolution der Künstlerverbände mit ganz ähnlichen Forderungen für die Parteikonferenz unterschrieben. Darin heißt es, Lettland müsse ein „souveräner Staat“ werden, mit dem Recht auf eigene Mitgliedschaft in der UNO und anderen internationalen Organisationen, auch solle in Zukunft eine eigene lettische Mannschaft an den Olympischen Spielen teilnehmen.

In den Konferenzplattformen beider Völker wird ihr historisches Schicksal angesprochen. In der lettischen Resolution findet sich die Forderung nach Veröffentlichung der geheimen Zusatzprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939, in dessen Folge die baltischen Staaten von der Sowjetunion besetzt wurden. Die estnischen Delegierten beziehen sich auf die Massendeportationen von hunderttausenden baltischer Bürger in den 40er Jahren.

Letten wie Esten fordern auch einen wirksamen Schutz vor noch stärkerer Überfremdung ihrer Republiken, die Kontrolle über Zu- und Abwanderung. Die Letten würden zu einer nationalen Minderheit in ihrem eigenen Land, heißt es in der Resolution. Der lettische Schriftsteller Janis Peters, der das Thema als Abgeordneter auf der Parteikonferenz zur Sprache bringen will, sagte am Mittwoch in einem Interview mit der 'Literaturnaja Gaseta‘, es müsse aufhören, daß man in den baltischen Staaten nach Nützlichkeitserwägungen einfach diesen oder jenen Industriezweig aufbaue. Auf einer Schriftstellerkonferenz Anfang Juni in Riga hätten viele Redner von dem großen Schmerz gesprochen, den viele Leute angesichts der sowjetischen Nationalitätenpolitik empfänden.

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