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„Europas Dachgarten brennt“

■ Der Bergwald stirbt weiter / Keine gemeinsame Umweltpolitik der Alpenländer / Lage „katastrophal“ / Umweltschützer fordern verbindliche Konvention

Während sich am Wochenende die ersten Urlauberströme in Richtung Süden quälten, tauschten in Lindau Vertreter des Deutschen Naturschutzrings (DNR) und der Internationalen Alpenschutzkommission CIPRA Informationen über den Zustand des Großökosystems Alpen aus.

Bei einem Pressetermin vor Beginn dieser „Internationalen Alpenschutzkonferenz“ wurde es als vorrangiges Ziel bezeichnet, daß vor der beabsichtigten Öffnung des europäischen Binnenmarktes 1992 eine europaweit gültige Konvention zum Schutz der Alpen durchgesetzt werden müsse.

„Wenn der Transitverkehr bis 1992 nicht auf die Schiene verlegt wird“, so Hartmut Röscheisen, Geschäftsführer des DNR, „werden die Alpen überrannt.“ Der Transitverkehr allein durch Österreich würde von 53 Millionen Tonnen auf 97 Millionen jährlich steigen; anstatt der bislang 40 Millionen Alpentouristen kämen dann 60 Millionen pro Jahr.

CIPRA-Präsident Dr. Mario Broggi kommentierte den düsteren Ist-Zustand: „Es brennt im Dachgarten Europas.“ „Mit dieser Bilanz“, so Broggi weiter, „beginnt ab sofort der Countdown auf dem etwa 1.200 Kolometer langen Alpenstreifen zwischen Ljubljana und Nizza.“ Man brauche so schnell wie möglich eine länder- und staatsübergreifende Rechtsgrundlage, die den Alpenanrainern ein gemeinsames Vorgehen ermögliche.

Zwar hat jeder Nationalstaat und auch jede Regionalregierung ihre eigenen Natur- und Umweltschutzgesetze, aber ein einheitliches Ökologie -Konzepot für den Alpenraum existiert nicht. „Ein chaotischer Zustand“, so ein österreichischer Vertreter, „die verschiedenen Auffassungen von Umweltschutz sind das eigentliche Übel.“

Die Zustandsberichte aus den einzelnen Alpenländern zeichneten allesamt ein düsteres Bild: von den jugoslawischen bis hin zu den französischen Alpen stirbt der Bergwald - mit unterschiedlicher Intensität. Bis zum Jahr 2000 rechnen die Experten mit einer Ausfallquote von mehr als 50 Prozent.

Die Umweltpolitik, das zeigten die Referate, bleibt meist in Absichtserklärungen stecken. Dies gilt beispielsweise für das Freihalten größerer Gebiete von technischen Erschließungen, für die Schaffung großräumiger Naturschutzgebiete oder für die Einrichtung biogenetischer Reservate.

Durchgängig auch die Probleme, die der ungehemmte Tourismus mit all seinen negativen Begleiterscheinungen nach sich zieht. Auch hier wurde kritisiert, daß es an länderübergreifenden Konzepten mangelt. Weiterhin werden Skipisten großflächig planiert und die Kapazitäten der Liftanlagen erhöht.

Mehr Lifte bringen mehr Touristen, mehr Touristen bedeuten mehr Verkehr, der wiederum benötigt Straßen, dazu der ungezügelte Bettenausbau - die Spirale dreht sich unaufhörlich weiter. Der Tourismus als stärkster Wirtschaftszweig in den Alpenländern bleibt weiterhin eine heilige, unantastbare Kuh.

Der Schweizerische Bund für Umweltschutz bemängelte das Fehlen einer „eigentlichen Tourismuspolitik“. Vor allem in den italienischen und französichen Alpen, so die Kritik der restlichen Alpenanrainer, hält der Bauboom trotz aller Warnungen weiter an.

Was ließe sich dagegensetzen? Die Forderung nach einer länderübergreifenden alpinen Raumordnung mit Rechtsverbindlichkeit stand immer wieder zur Diskussion, nur: auf die Schnelle wird sich auch da nichts tun. Klar, man will Gespräche führen - wie lange noch? Man war informiert bis zur Sprachlosigkeit.

Auch bei Harmut Röscheisen fiel das Resümee der Lindauer Tagung nicht eben positiv aus: „Die Alpenproblematik ist noch viel zu wenig verbreitet, die meisten wissen doch gar nicht, was da auf uns zukommt.“ Ob erst der Brenner mitsamt den 4.000 LKWs, die täglich darüber donnern, den Leuten in der Hauptreisezeit auf den Kopf fallen muß? „Wahrscheinlich“.

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