Der nichtjüdische Jude

■ Isaac Deutschers Essays zu Judentum, Zionismus und Israel sind jetzt erstmals vollständig in der BRD erschienen

„Ich glaube nicht, daß sich der Antisemitismus schon verausgabt hat“. Dieser schlichte Satz, 1966 von Isaac Deutscher geschrieben, bringt das Dilemma linker, vor allem westdeutscher linker Kritik am Staat Israel auf seinen hochbrisanten Punkt. „Wenn ich in den zwanziger und dreißiger Jahren, statt gegen den Antizionismus anzugehen, die europäischen Juden aufgefordert hätte, nach Palästina zu gehen, hätte ich womöglich geholfen, einige Menschenleben zu retten, die später in Hitlers Gaskammern ausgelöscht wurden.“ Der Marxist und „nichtjüdische Jude“ Deutscher ist trotzdem Antizionist geblieben. Seine vielfach in sich selbst gebrochene, immer wieder reflektierte Position macht den jetzt erstmals komplett auf deutsch veröffentlichten Essayband „Der nichtjüdische Jude“ zu einer so wichtigen Lektüre. Vehement bezieht Deutscher Stellung gegen jede nationalistische Lösung des Nahost-Problems. Er weiß um das Elend der arabischen Flüchtlinge, aber er kommt auch nicht umhin, anzuerkennen, daß der Zionismus als „der politische Höhepunkt jüdischen Mißtrauens gegenüber der nichtjüdischen Welt...(sich) zu Europas ewiger Schmach als nur zu berechtigt erwiesen (hat)“. „Für ein unterjochtes Volk ist die staatliche Unabhängigkeit eine Notwendigkeit und ein Fortschritt. Wenn ein Volk aber dieses Stadium erreicht hat, kann es für dieses Volk nichts rückschrittlicheres geben, als in diesem Stadium zu verharren und sich zu weigern, darüber hinaus zu blicken“ faßt Deutscher seine Position in dem Essay zu „Israels zehntem Geburtstag“ zusammen. Fast zehn Jahre später bestätigt der Sechstagekrieg die Richtigkeit dieser Einschätzung. Und Deutscher kritisiert alle die, die sich trotzdem zur Solidarität mit der israelischen Aggression genötigt sehen: „Man erweist Israel einen schlechten Dienst und schadet ihm auf lange Sicht, wenn man seinen Krieg gegen die Araber rechtfertigt oder entschuldigt. Israels Sicherheit wurde durch die Kriege von 1956 und 1967 nicht verstärkt...Die „Freunde Israels“ haben es in Wirklichkeit auf einen zerstörerischen Kurs gebracht.“

Im Zentrum des Deutscher-Buches steht aber nicht Israel, sondern die Frage nach der jüdischen Identität: In dem Aufsatz „Der nichtjüdische Jude“ versucht er, anhand der sehr unterschiedlichen Auseinandersetzungen von Spinoza, Heine und Marx mit ihrem Judentum nachzuweisen, daß sie trotz ihrer Abkehr von der Religion der jüdischen Tradition verhaftet blieben. Eine vollkommene Assimiliation war nicht möglich: „Jeder von ihnen gehörte zur Gesellschaft und doch wieder nicht.“ Dieser Zustand hat sie befähigt, sich in ihrem Denken über ihre Gesellschaft, über ihre Nation, über ihre Zeit und Generation zu erheben, neue Horizonte geistig zu erschließen.“ In „Wer ist Jude“ geht Deutscher die Frage der jüdischen Identität noch grundsätzlicher an: er leugnet eine positive Identität, Abgrenzungen, Kritik, Negativität bilden sein Lebenselement. „Der gegenwärtig herrschende Druck, eine positive Identität vorzuzeigen rehabilitiert falsche Kollektive. „Der nichtjüdische Jude“ aber verabschiedet sich aus naturwüchsigen Kollektiven. „In ihm lebt der emanzipatorische Impuls weiter, sich aus undurchschaubaren Zwängen zu befreien“ verallgemeinert Detlev Claussen in seiner überaus lesenswerten Einleitung Deutschers Ansatz und spitzt ihn damit gleichzeitig zu.

Der letzte Beitrag Deutschers in dem Band, der kürzeste, thematisiert die Einzigartigkeit von Auschwitz - und begibt sich damit in einen brisanten Widerspruch zu einem Beitrag von Knut Mellenthin in der KB-Broschüre: „Und wenn die beliebte These stimmt, daß Auschwitz das Unbegreifliche in der Geschichte schlechthin sei, so läuft das einfach nur darauf hinaus, daß der Nazi überhaupt nicht zu begreifen sei. Der Verdacht liegt nahe, daß hier wieder einmal der Nazismus über Auschwitz definiert werden soll, um die materiellen Zwecke der Nazi-Diktatur zu verunklaren.“ schreibt Mellenthin selbstsicher. Der Marxist Deutscher, an einer „Verunklarung materieller Interessen“ kaum interessiert, zweifelt: „Für einen Historiker, der die Massenvernichtung der Juden zu begreifen sucht, besteht die größte Schwierigkeit in der absoluten Einmaligkeit dieses schrecklichen Ereignisses. Die bedingungslose Versessenheit des Nazismus, jeden Juden in seinem Herrschaftsbereich auszurotten, übersteigt das Fassungsvermögen eines Historikers, der sich bemüht, die Beweggründe menschlichen Handelns zu ermitteln und die Interessen hinter diesen Beweggründen aufzuspüren. Wer traut sich zu, die Beweggründe und Interessen zu analysieren, die sich hinter den Ungeheuerlichkeiten von Auschwitz verbergen?“ Detlev Claussen ergänzt: „Aber die Geschichte, die zu Auschwitz führt, kann man begreifen. Nicht trotzige marxistische Orthodoxie, sondern der Drang, Auschwitz nicht die letzte Tat sein zu lassen, zwingt, sich auf die intelektuellen Mittel zu besinnen, die zur Verfügung stehen.“

Oliver Tolmein

Isaac Deutscher, Der nichtjüdische Jude, Rotbuch-Verlag, 192 Seiten, 28 DM