Die ausweglose Situation der Monika Weimar

■ „Lebenslänglich“ lautete das Urteil gegen Monika Weimar, die ihre beiden Töchter am 4.August 1986 „geplant und heimtückisch umgebracht haben soll / Ein „skandalöses Urteil“, befindet Heide Platen, Autorin von „Kindsmord - Der Fall Weimar“ - Ein Buch über die Tat, den Prozeß, Vorverurteilungen und Vorurteile

Kindesmord gilt als eines der abscheulichsten Verbrechen in dieser Gesellschaft, und über die TäterInnen ergießen sich häufig die geballte Wut und die Empörung des Volkes, selbstgerecht und undifferenziert, insbesondere dann, wenn es sich um die Mutter des Kindes handelt.

Das ist exemplarisch nachzuvollziehen am „Fall Weimar“. Jenem Fall, in dem im Januar dieses Jahres die Mutter der beiden fünf- und siebenjährigen Mädchen Melanie und Karola Weimar vom Landgericht Fulda zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Nach 44 Verhandlungstagen über neun Monate hinweg, an denen beinahe 100 ZeugInnen, zum Teil mehrfach, gehört wurden, war das Gericht zu der Überzeugung gekommen, daß die 28jährige Monika Weimar ihre beiden Kinder am Vormittag des 4.August 1986 geplant und heimtückisch umgebracht habe, gleichwohl sie die Kinder auch „geliebt“ habe. Zwar erschienen dem Gericht die Motive für die Tat „weitgehend im dunkeln“, doch es ging davon aus, daß Monika Weimar sich in einer „subjektiv ausweglosen Situation“ befunden habe, möglicherweise, weil sie sich von ihrem Geliebten, einem US-Soldaten, unter Druck gesetzt gefühlt habe.

taz-Redakteurin Heide Platen, die den Prozeß gegen Monika Weimar mitverfolgt hat, hat unter dem Titel „Kindsmord“ nun ein Buch darüber herausgebracht. Sie zeichnet darin nicht nur den Verhandlungsverlauf nach, sondern skizziert die Lebensumstände und -bedingungen der Monika Weimar und ihres Ehemannes Reinhard, der in der Anfangszeit der Ermittlungen ebenfalls verdächtig erschien, die beiden Töchter umgebracht zu haben, bis sich die Ermittlungen schließlich auf die Mutter konzentrierten.

Bereits im Vorwort läßt die Autorin keinen Zweifel daran, daß sie das Urteil für skandalös hält, weil „das Beweismaterial gegen Monika Weimar für eine Verurteilung nicht ausreichte“. Eine Position, die angesichts einer verwirrenden Vielzahl von widersprüchlichen Einzelheiten nicht ohne weiteres nachzuvollziehen ist, zumal mir unklar blieb, warum Heide Platen sämtliche BelastungszeugInnen für unglaubwürdig hielt und den unterschiedlichen Versionen der EntlastungszeugInnen, die zum Teil nach Gefälligkeitsaussagen klangen, mehr Gewicht beimaß.

Doch darum geht es nicht in erster Linie in diesem Buch. Vielmehr geht es um die Klischees und Vorurteile einer Gesellschaft, die (Ehe-)Frauen und Müttern keinen Raum zur Entfaltung zugesteht und die jeden Ausbruch aus den festgelgten Bahnen als Provokation und Verrat ahndet. Eben deshalb war Monika Weimar schon längst vor dem Urteilsspruch, ja bereits vor Eröffnung des Verfahrens, in der öffentlichen Meinung und den Medien vorverurteilt. Und diese Voreingenommenheit, das macht Heide Platen auch deutlich, hat Ermittler und Richter ebenfalls beeinflußt.

Monika Weimar entsprach nicht dem Bild der treusorgenden Ehefrau; sie verhielt sich, als nach ihren Töchtern gesucht und sie schließlich tot aufgefunden worden waren, nicht so, wie es von einer liebenden und leidenden Mutter offenkundig erwartet wurde. Doch gibt es ein allgemeingültiges Schema, nach dem Frauen sich in einer Ausnahmesituation verhalten?

Detailiert, die Klischees und Raster angreifend, zeichnet Heide Platen die konkreten Verhaltensweisen, die gesamte Lebenssituation der beiden Eltern Weimar nach, ihr Leben in einem Ort, in dem jeder jeden kennt'und in einer Ehe, die bereits nach drei Jahren zerrüttet war.

Daß der Mann die Frau verprügelte, brachte die Volksmeinung allerdings nicht gegen ihn auf, machte ihn auch nicht der Tat verdächtig - so etwas gilt als „normal„; daß aber Monika Weimar aus der Enge und Bedrohung dieser Ehe ausbrach und sich einen US-Soldaten als Liebhaber nahm, machte sie in der Volksmeinung zum „Ami-Flittchen“ und zur „Hure“. Und so einer wird alles zugetraut, auch, daß sie ihre Kinder umbringt. Präzise und beeindruckend beschreibt Heide Platen die familiären Verstrickungen und sozialen Hintergründe, in deren Kontext die Tat erst möglich wurde. Und wenn für die Pozeßbeobachterin auch unentschieden ist, ob Monika Weimar (oder auch ihr Ehemann) die Kinder umbrachte, klar wird auf jeden Fall, daß es sich um eine „Beziehungstat“ handelte, eine der Taten, „in denen Eltern ihre Konflikte untereinander an den Kindern ausagieren, oder Taten, die ein Ausbruchsversuch aus unterträglicher seelischer oder materieller Not sind“.

Irritierend fand ich, daß die Autorin in bezug auf die getöteten Kinder meistens von „Mord“ spricht, obwohl sie klar darlegt, daß ihr ungewiß erscheint, wie und von wem die Kinder umgebracht wurden, und obwohl sie in Exkursen, zum Beispiel über „Beziehungstaten“, überzeugend Positionen referiert, nach denen solche Kindestötungen als „Totschlag“ zu werten sind.

Die Exkurse selbst, die sie parallel zur Darstellung des „Falls Weimar“ unternimmt, sind außerordentlich spannend und informativ. Darin zeichnet sie die Geschichte der Kindestötungen und die damit verbundene gesellschaftliche Moral nach.

Nicht immer galt Kindestötung als verwerflich und wurde juristisch geahndet: In Europa zum Beispiel wurden erst im Mittelalter - zunächst wenig beachtete - Gesetze gegen Kindesmord eingeführt, bis dahin war das Töten eigener oder auch fremder Kinder durchaus üblich. Allerdings spielten die ehelichen Beziehungen dabei als Motive keine Rolle, eher entsprangen sie ökonomischen Interessen oder sollten auf diese Weise Erbfolgen geregelt werden. Kinder galten als „Nicht-Personen“, mit denen nach Belieben zu verfahren war. Entsprechend war von der angeblich natürlichen „Mutterliebe“, deren Mangel Frauen heute als besondere Herz oder Gefühllosigkeit angelastet wird, keine Rede. Das „Liegenlassen“, „Himmeln“ oder „Engeln“ von Neugeborenen, die nach der Geburt nicht versorgt wurden und starben, war zum Beispiel bis in dieses Jahrhundert hinein eine „gesellschaftlich geduldete Praxis der Geburtenkontrolle“.

Bei ihrem Streifzug in die griechische und römische Antike bis hin zur alttestamentarischen Bibel zeigt Heide Platen auf, daß Kindestötung oder auch -aussetzung ein akzeptiertes Regulativ gegen Überbevölkerung war. Allerdings wurden Frauen immer anderen Regeln unterworfen als Männer. So durften zum Beispiel im Römischen Reich Väter ihre Kinder unter bestimmten Voraussetzungen umbringen, Mütter dagegen wurden dafür bestraft. Die Ungleichbehandlung (und -beurteilung von Frauen und Männern - das belegt Heide Platen durch viele Beispiele aus der (Rechts)-Geschichte, hat also Tradition. Aber es gibt auch besondere Milderungsgründe gegenüber Frauen. Noch im letzten Jahrhundert etwa in Österreich und Bayern, wenn Mütter ihre unehelichen Kinder umbrachten, um ihre „Ehre zu retten“! Sorgfältig nimmt Heide Platen auch neuere Literatur auseinander, die „Frauenbilder“ verbreitet, die dazu beiträgt, „die Frau“ als einzig mögliche potentielle Kindsmöderin auch heute festzuschreiben. Ihr Buch „Kindsmord“ jedenfalls ist ein spannender Beitrag dagegen.

Gitti Hentschel

Heide Platen: Kindsmord - Der Fall Monika Weimar, Rotbuch Verlag 1988, 15,-DM