Nervöse Hühner an Libanons Küste

Nicht der Bürgerkrieg oder die Wirtschaftskrise, sondern ein handfester Umweltskandal bewegt derzeit die Gemüter / Radioaktiv verseuchtes Fleisch und 2.400 Tonnen Giftmüll aus Italien aufgetaucht / Verbrennung auf dem Pazifik geplant / Dioxinverdacht fegt die Strände leer, und die Hausfrau meidet italienische Produkte  ■  Aus Beirut Petra Groll

Die Badestrände am Mittelmeer sind leergefegt, der sommerlichen feuchten Hitze zum Trotz. Entsetzte Mütter zerren ihre jaulenden Kinder außer Sichtweite des Eisverkäufers. Eine Katze, das schwören Lokalreporter, habe sich aufgeführt wie ein gescheuchtes Huhn. Mag sich auch auf vier Pfoten nur schwerlich flattern, die Herren bleiben dabei: Das grünliche Pulver, Inhaltsprobe eines am südlichen Strand angeschwemmten Fasses, habe die Katze in ein nervöses Federvieh verwandelt.

Die Zeitung 'Orient le Jour‘ meldete am 28.Juni zynisch, daß der libanesische Mensch, der wissen möchte, ob er sich beim Schwimmen in ein Huhn verwandelt, erst abwarten müsse, was bei der Analyse des Meerwassers und einiger Fische herauskommt. Die Proben wurden am gleichen Tag in bundesdeutsche Speziallabors geschickt.

Eine halbe Million Frühstückseier, Tausende Tonnen von Gefrierfleisch und -geflügel, Milchprodukte containerweise wurden in den letzten Wochen als Müll entlarvt. Landauf, landab sind die Krankenhäuser mit einer Vielzahl vermeintlich vergifteter Kinder überfüllt. Ein Parlamentsabgeordneter fordert lauthals und in aller Öffentlichkeit die Einführung der Todesstrafe gegen Importeure verseuchter Waren.

Einkaufen sei zur Hölle geworden, beschwert sich meine Nachbarin. Muß sie doch vorher die Tageszeitung lesen, um auf dem laufenden zu bleiben, welches Kühlhaus, welche Lagerhalle, welche Supermarktkette den Kontrollen des Gesundheitsministeriums nicht standgehalten hat und am Vortag versiegelt und verrammelt wurde.

Kommerzielle Gegenanzeigen versichern der verehrten Kundschaft hoch und heilig, daß die Produkte dieses Landes unter ständiger Überwachung stünden und nie und nimmer gesundheitsschädlich seien. Die gebeutelte Hausfrau braucht doppelt so viel Zeit zum Einkaufen wie vor drei Wochen. Außer Produktions- und Verfalldatum sucht sie mißtrauisch nach Angaben über das Herkunftsland und meidet wie die Pest, was aus Italien kommt. Denn mit der Pest aus Italien fing vor drei Wochen alles an.

Spätfolgen Tschernobyls

„Tschernobylisiertes“ Fleisch („made in Italy“), von den königlich jordanischen Behörden abgeschoben, war von einem libanesischen Importeur aufgekauft worden. Nach mehrfach widersprüchlichen Expertisen, die von „nicht verseucht“ bis „weit über dem Höchstwert“ reichten, steht mittlerweile fest, daß der Libanon nicht einmal über das entsprechende technische Gerät verfügt, die radioaktive Verseuchung von Nahrungsmitteln zuverlässig zu ermitteln.

Nach diesem ersten Alarm wurden im Christenland von Kesrouan außerdem 2.400 Tonnen Giftmüll - wiederum „made in Italy“ - entdeckt, die auf illegalem Weg in den Libanon verschifft worden waren. Seither vergeht kein Tag ohne neuen Umwelt- und Gifthorror.

Folgerichtig befindet sich das Volk im Zustand „kollektiver Psychose“, wie die Medien jetzt hochnäsig konstatieren. Nach ganzen drei Wochen präsentierte das vom Gesundheitsministerium herbeigezogene Expertenteam jetzt erste Untersuchungsergebnisse: Es handle sich um nicht zu recycelnde Abfallprodukte der Pestizid- und Farbenindustrie, die nicht nur hochgiftige Gase entwickeln, sondern, starker Sonnenstrahlung ausgesetzt, auch explodieren können. Über eventuelle Gefahren, genaue Auswirkungen auf Mensch und Umwelt gibt es weiterhin keine Angaben.

Glücklicherweise beginnt der Hochsommer erst jetzt, denn die teils verrotteten Fässer und Plastikkübel lagerten zehn Monate unbewacht unter freiem Himmel. Nun warten die 2.400 Tonnen Giftmüll wieder in Schiffsleibern auf weitere Anordnungen.

Die italienische Regierung hatte zunächst unter Verweis auf das zwischen zwei Privatfirmen abgeschlossene Geschäft die Repatriierung der Gifte abgelehnt, gleichwohl aber „aus humanitären Gründen“ drei Millionen Dollar für die Vernichtung des Giftmülls bereitgestellt. Dem Vernehmen nach wird der Giftmüll demnächst Kurs auf den Pazifik nehmen, wo Spezialschiffe das Material verbrennen sollen, angeblich ohne Gefahr für die Umwelt.

Der für die Italien-Connection verantwortliche Manager Haddad sitzt nach wie vor im Knast der Phalange-Miliz „Forces Libanaises“ (FL). Dort erwartet ihn weder die Todes noch sonst eine Strafe, denn Justiz und Justizvollzug liegen zumindest bei derart öffentlich gewordenen Fällen in den Händen staatlicher Organe.

Politisches Gift

Die Festnahme Haddads und die unter großem Getöse veranlaßte Rückführung des Giftmülls in den von der Phalange kontrollierten Hafen von Beirut war jedoch das Allermindeste, was die „FL“, die das Christenland beherrscht, zur Wiederherstellung ihres Images tun konnte. Die (moslemischen) Oppositionsparteien unterließen nämlich keinen Versuch, den Umweltskandal im Christenland in gezielte politische Giftspritzen umzufunktionieren.

Die Tageszeitung 'Assafir‘ etwa erinnerte an eine Gasexplosion im Ost-Beiruter Stadtteil Furn el Shabak vor zwei Jahren, die einer dichten Verdachtskette zufolge eine Werkstatt vernichtete, in der unter den Augen der „FL“ Giftgas für den Irak produziert wurde. Staatliche Ermittlungen und öffentliche Berichterstattung über das Unglück waren damals von der „FL“ erfolgreich verhindert worden.

Panik löste auch die Wochenzeitung 'Magazine‘ aus, die spekulierte, die in Kesrouan gelagerten Fässer könnten das Anfang März dieses Jahres von Italien nach Syrien verschiffte Sevesogift Dioxin enthalten. Die syrischen Behörden waren rechtzeitig hinter das Geschäft gekommen, das betreffende Schiff hatte den Hafen von Tartous mitsamt seiner Ladung wieder verlassen müssen.

Libanon versteht sich längst als Schicksalsgenosse Nigerias und anderer „Dritte-Welt„-Staaten, die als Mülleimer der Industrienationen benutzt werden. Dabei hätte das Land durchaus Chancen, „sauber“ zu bleiben. Das traditionelle Touristenziel verfügte niemals über großartige Industrieansiedlungen, und nicht nur die Nähe zu Israel verhindert den Bau von Atomkraftwerken.

Der Libanon ist ein Erdbebengebiet. Doch das Umweltbewußtsein ist - sicher eine Folge ständiger Sorge ums Überleben in bleihaltiger Luft - entweder eine panische Überreaktion oder aber Freizeitbeschäftigung exklusiver Zirkel geblieben. Rotary- oder Lion's-Club veranstalten mindestens einmal im Jahr eine Woche der Umwelt.

Der sonst gelangweilten Bourgeoisie gelten denn auch die verstärkten Angebote libanesischer Reiseveranstalter, in diesem Sommer an andere Mittelmeerstrände zu fliehen. Lokale Ferien- und Freizeitunternehmen beklagen schon jetzt den zu erwartenden Verlust, der gemeine Mensch wird in seiner eh minimalen Bewegungsfreiheit noch weiter eingeschränkt und bleibt auf dem Balkon, so er einen hat.