Greise Hoffnung für die DKP

■ DDR-Professor Jürgen Kuczynski zu Gast in Bremen / Er verlangt Perestroika auch für die DDR und fordert „öffentliches Nachdenken“ auch von der DKP

Das DKP-Zentrum in der Hemmstraße war bis auf den letzten Platz gefüllt, denn der Gast war prominent: Professor Jürgen Kuczynski, Wirtschaftshistoriker aus der DDR, ein bienenfleißiger Wissenschaftler und kommunistischer Parteiveteran. Generationen marxistischer Studen

ten haben ihre Erleuchtungen aus seinen Büchern gesaugt. Sein Standardwerk, „Die Lage der arbeitenden Klasse unter dem Kapitalismus“, umfaßt 40 Bände. Sein Thema am Donnerstagabend vor den Bremer DKP-GenossInnenen: „Perestroika in der DDR“. Auch in diesem Zusammenhang

hat sich der gelehrte Greis (Jahrgang 1899) in den letzten Jahren einen Namen gemacht: Einen „orthodoxen Dissidenten“ nannte ihn die Springerzeitung „Die Welt“, und so sieht Kuczynski sich auch selbst. Wenn er in der DDR Vorträge hält, sind die Versammlungsräume gesteckt voll, berichtete er: „Diejenigen, die Hoffnungen haben, unterhalten sich mit mir.“

Hoffnungen hatten auch die Bremer DKP-Genossen, durch die bewegten Diskussionen in der Sowjetunion einerseits und die erstarrten DDR-Verhältnisse andererseits in ganz ungewohnte Widersprüche gestürzt. Was würde der sympathische alte Kämpfer, der liebe, weise Vater aus Berlin-Weißensee seinen geplagten Kindern raten?

Kuczynski verstand zu trösten: Die Perestroika belebe seine Jugenderinnerungen wieder, fing er seinen Vortrag an, sie sei eine Revolution zur Weitergestaltung der sowjetischen Gesellschaft, und sicher nicht die letzte. So spannte er den großen historischen Bogen, unter dem die Bremer Genossen sich geborgen fühlen konnten, und gab dann den Blick auf die DDR-Verhältnisse frei: Die Führung der Partei wolle die Offenheit im Leben von Partei und Gesellschaft (Kuczynski: „Leninsche Normen“) aus der Sowjetunion nicht übernehmen. Andererseits seien die Parteibasis und die Bevölkerung von Gorbatschow begeistert.

Doch nicht alle Zuhörer warens zufrieden: Ob die DDR nicht ihre Beteiligung am Einmarsch des Warschauer Paktes in die CSSR 1968 neu überdenken müsse, wollte der Grüne Gerrit Guit wissen. Im Prinzip ja, meinte Kuczynski, die Invasionstruppen hätten aber vielleicht nur die tschechischen Grenzen nach

Westen hin besetzen und das übrige Land frei lassen sollen.

In der Bremer DKP gibt es indes nicht nur Freunde des „neuen Denkens“: Willi Hundertmark, Parteiveteran und in Bremen bekannt als Führer bei den antifaschistischen Stadtrundfahrten, ließ auf die 1968er Invasion nichts kommen: „Damals herrschte eine angespannte Klassensituation, schließlich unterhielt die Bundesrepublik auf CSSR-Gebiet 22 Rundfunk-Stationen“. Dagegen wirkte der „orthodoxe Dissident“ aus der DDR richtig locker. „Nachdenken, laut und öffentlich nachdenken“, riet er den Bremer Genossen, „die andern können das ruhig hören. Denkt an Lenin!“

Neue Offenheit in der Frauenfrage reklamierte die DKP -Genossin Marianne Frese. Die Partei sei in dieser Hinsicht nie radikal gewesen, eine Quotierung von Parteiämtern sei das mindeste, was jetzt passieren müsse. Dieser Hinweis brachte Kuczynski ins Plaudern: „In der DDR sind Frauen völlig gleichberechtigt - in allen unbedeutenden Funktionen“. Was die Besetzung von Spitzenpositionen mit Frauen angehe, da „ist der Westen uns weit überlegen“. Ein Artikel Kuczynskis für die DDR-Frauenzeitschrift „Für Dich“ mit diesen Feststellungen wurde nicht abgedruckt, sondern ans Politbüro weitergereicht. Aber kurz darauf erging ein Hinweis an die Akademie der Wissenschaften der DDR, zukünftig mehr Frauen aufzunehmen...

So langsam taut das Eis in der DDR. Für Kuczynski kein Grund zum Verzweifeln. Er beleuchtet den öden Gang der Dinge mit seinem weisen Altmänner-Humor. Getröstet gingen die meisten Genossen in die umliegenden Kneipen.

Michael Weisfeld