Die Lügen für die Frau

■ Ein Streifzug durch die von Männern dominierten Wissenschaften zeigt: Überall wird sexueller Mißbrauch an der Tochter verharmlost / Der Vater hat niemals Schuld / Ist Inzest die fast zwingende Konsequenz aus der patriarchal strukturierten Familie? / Eine Rezension

Gitti Hentschel

Lots Töchter, das sind - der Überlieferung des Alten Testaments zufolge - zwei junge Frauen, die ihren Vater Lot betrunken gemacht und dann nacheinander verführt haben, um auf diese Weise die Nachkommenschaft zu sichern.

In Anspielung auf diese Geschichte hat die Holländerin Josephine Rijnaarts, die selbst als Kind vom Vater sexuell mißbraucht wurde, ihr Buch „Über den Vater-Tochter-Inzest“ ebenfalls „Lots Töchter“ genannt. Nicht nur, weil das Alte Testament, so Josephine Rijnaarts, „noch immer eines der meistgelesenen Bücher der Welt“ ist, sondern weil die Moral aus dieser Geschichte sich bis heute hartnäckig gehalten hat. Trotz all der Arbeit von Selbsthilfegruppen wie „Wildwasser“ oder von feministischen Autorinnen, die in den letzten Jahren das Ausmaß und die verheerenden Folgen des sexuellen Mißbrauchs in der Familie publik gemacht haben, von dem in erster Linie Mädchen betroffen sind. Nach der herrschenden Moral erscheint der sexuelle Kontakt zwischen Vätern und Töchtern harmlos und nicht besonders verwerflich, schließlich wollen ihn die Töchter selbst, und den Vater trifft keine Schuld. Zumal, wenn er - wie Lot - betrunken war und nicht wußte, was er tat.

Nicht nur von den Vätern selbst werden derartige Rechtfertigungsmuster noch immer vorgebracht. Sie geistern auch ungebrochen durch die verschiedenen Wissenschaftszweige, allen voran durch die Kulturanthropologie und Psychoanalyse, aber auch durch die (Sozial-)Psychologie, wie Josephine Rijnaarts detailliert darlegt. Die Vorurteile dieser Wissenschaften sind insofern wenig verwunderlich, als sie - wie die Bibel von Männern geschrieben - von Männern bestimmt werden. Und, so Josephine Rijnaarts, „die Wahrheit des Mannes ist die Lüge für die Frau“.

Daß es mit der „Wahrheit des Mannes“ aber auch nach seiner eigenen Logik nicht weit her ist, weist die Autorin in einer detaillierten Auseinandersetzung mit den verschiedenen Erklärungsansätzen und Analysen der einzelnen Wissenschaftszweige über den sexuellen Mißbrauch von Kindern in der Familie nach. Sie deckt die Widersprüche, Unstimmigkeiten und Nachlässigkeiten in den Theorieansätzen auf und legt die Vorurteile der angeblich so sachlichen und unvoreingenommenen Wissenschaftler offen.

Zum Beispiel stellte der Kulturanthropologe Bronislaw Malinowski in den 20er Jahren, ausgehend von seinen Untersuchungen bei den Trobriandern in Neuguinea, die These auf, daß Inzest der Untergang der Familie sei. Obwohl Malinowski konstatierte, daß Töchter in der Pubertät häufig „unter Verfolgungen durch den Vater leiden“ und daß „die Vater-Tochter-Blutschande unvergleichlich häufiger stattzufinden scheint als die zwischen Mutter und Sohn“, konzentrierte er sich doch in seinen Arbeiten auf den Mutter -Sohn-Mißbrauch, da von ihm die weitaus größere Gefahr ausgehe. Dahinter steckt die unausgesprochene Ansicht, daß es ein Recht des Vaters sei, seine Tochter zu mißbrauchen. Eine Ansicht, die bei den Kulturanthropologen, aber auch den -anthropologinnen fast durchgängig zu finden ist, wie Josephine Rijnaarts zeigt. Entsprechend kommt sie zu dem Ergebnis, daß uns „ein Jahrhundert Kulturanthropologie“ nur „wenig“ gelehrt habe. Sie habe lediglich das Vorurteil der patriarchalischen Gesellschaft gestützt, nach dem „die Frau (..) sexueller Besitz des Mannes und Inzest (...) ein Eigentumsdelikt“ ist und nach dem „Mädchen sexuell keine Kinder und als solche begehrenswerte Objekte“ sind. Freud und die Psychoanalyse

Es ist inzwischen weitgehend bekannt, daß gerade Freud und die Psychoanalyse erheblich zu den gesellschaftlichen Vorurteilen beigetragen haben, die Mädchen zu „Verführerinnen“ des Vaters abstempeln oder ihre Beschuldigungen als Phantasieprodukte abwehren. Denn gemäß Freuds Theorie vom Ödipus-Komplex begehrt die Tochter den Vater und wünscht sich ein Kind von ihm - zur Kompensation angeblichen Penisneids. Allerdings hatte Freud vor der Entwicklung dieser Theorie eine andere aufgestellt, die sogenannte „Verführungstheorie“. Darin hatte er die Berichte seiner Patientinnen über den sexuellen Mißbrauch durch den Vater noch ernstgenommen und Neurosen auf diese schreckliche Erfahrung zurückgeführt.

In kritischer Auseinandersetzung zeichnet Josephine Rijnaarts den Weg Freuds vom Widerruf seiner „Verführungstheorie“ bis zur Entwicklung der Ödipus-Theorie nach. Dabei stellt sie den Ödipus-Komplex dem auch auf eine griechische Sage zurückgehenden sogenannten „Antiochus -Komplex“ entgegen, der ein sehr viel schlüssigeres Erklärungsmodell für den sexuellen Mißbrauch liefert. Danach entwickeln Männer aufgrund eigener Defizite, resultierend aus der Erziehung in der patriarchalen Familie, und aufgrund von Machtstrebungen das Bedürfnis nach „uneingeschränktem Zugang zum Körper einer Frau“. Dieses Bedürfnis leben Väter im Mißbrauch gegenüber den Töchtern aus. Da nach dieser Theorie der „Vater-Tochter-Inzest (...) etwas mit der Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft zu tun“ hat, folgen daraus nach Rijnaarts „politische Konsequenzen“. Es müsse sich „an den Strukturen von Familie und Gesellschaft etwas ändern“.

Diese Betrachtungsweise widerspricht den systemtheoretischen Ansätzen, die viele Sozialwissenschaftler und Psychologen heute vertreten. Sie begreifen nach Josephine Rijnaarts sexuellen Mißbrauch als Ausdruck zerrütteter Familienverhältnisse und schieben dafür allen Familienmitgliedern gleichermaßen die Verantwortung zu. Die unterschiedliche Machtverteilung innerhalb der Familie ignorieren sie. In der Konsequenz führt das sogar dazu, daß sie - in Freudscher Tradition - den Müttern und Töchtern die Hauptverantwortung für das Verbrechen des Mannes aufbürden. Die Autorin weist nach, daß diese Theorieansätze geradezu triefen von Vorurteilen gegenüber Frauen und Mädchen. Männer erscheinen darin lächerlich schwach und unmündig.

Dem stellt Josephine Rijnaarts die Sicht feministischer Theoretikerinnen gegenüber. Danach ist sexueller Mißbrauch die Konsequenz aus der Institution Familie in der patriarchalen Gesellschaft.

Obwohl es in ihrem Buch um eine kritische Auseinandersetzung mit den verschiedenen, das öffentliche Bewußtsein prägenden Theorien über sexuellen Mißbrauch von Mädchen in der Familie geht, vermittelt die Autorin zugleich einen nachhaltigen Eindruck davon, was er für die Betroffenen bedeutet. Am Schluß kommen auch die Mädchen selbst zu Wort. Nicht schlüssig erscheint mir jedoch die Begründung der Autorin, statt des Begriffs „Mißbrauch“ das verharmlosende Wort „Inzest“ zu benutzen. In der Hoffnung nämlich, daß durch die Sprachentwicklung künftig „die meisten Menschen Inzest in erster Linie mit Mißbrauch und Ausbeutung in Verbindung bringen“.

Josephine Rijnaarts: Lots Töchter - Über den Vater-Tochter -Inzest, Claasen Verlag Düsseldorf 1988; 29,80 D