Sturmzeichen

Tote bei den Demonstrationen in Eriwan  ■ K O M M E N T A R E

Die massenhaften Streiks und Demonstrationen drücken nicht nur den Willen des armenischen Volkes aus, sie schaffen ihn auch. Jetzt, da es die ersten Toten - also Märtyrer gegeben hat, scheint kaum noch Aussicht auf eine friedliche Lösung zu bestehen. Auch die armenische Staats- und Parteiführung könnte sich nur noch um den Preis, jeden Kredit bei der Bevölkerung zu verspielen, auf einen Kompromiß einlassen.

Die anti-armenischen Pogrome in Sumgait und anderswo zeigten schon im Frühjahr, daß die sauberste Lösung - den armenischen Forderungen stattzugeben - in Aserbaidschan einen Aufruhr auslösen könnte. Auch dieses Widerstandspotential verstärkt sich nun: Die Massenflucht der aserbaidschanischen Einwohner Armeniens hat bereits eingesetzt.

Die auf der Parteikonferenz der KPdSU vor einer Woche vorgeschlagenen Institutionen zur einvernehmlichen Regelung nationaler Konflikte gibt es noch nicht. Es ist auch unwahrscheinlich, daß sie in der gegenwärtigen Lage noch eine Chance hätten. Wären die beiden verfeindeten Länder unabhängig, stünde der Krieg vor der Tür. Ein inner -sowjetischer Krieg ist aber trotz aller Demokratisierung nicht vorgesehen. Die Führung in Moskau kann überdies kalkulieren, daß ein aserbaidschanischer Aufstand noch gefährlicher wäre. Denn der benachbarte Iran wäre sicherlich zu jeder möglichen Hilfe bereit.

Die sowjetische Armee hat elende Erfahrungen in der Niederschlagung von Aufständen. Es wäre tragisch, wenn ausgerechnet die jetzige politische Führung der UdSSR auf diese Erfahrungen zurückgreifen sollte. Transkaukasien steuert auf eine Katastrophe zu.

Erhard Stölting