Abzug

■ Der Westen fürchtet Gorbatschows Überraschungscoup

Geheimdienste, die „Erkenntnisse“ über den Feind an die Öffentlichkeit bringen, verfolgen oftmals Strategien, die kaum mit der Wahrheit harmonieren. Aber wenn die amerikanische Regierung jetzt behauptet, sie wolle die Verbündeten keinem neuerlichen Überraschungscoup Gorbatschows aussetzen, dann macht das ebenso Sinn, wie ein sowjetischer Truppenabzug aus Ungarn. Auch die ungarische Regierung hat schließlich nicht dementiert.

Die sowjetischen Truppen in den Ländern Osteuropas sind einerseits Bestandteil der militärischen Ost-West -Konfrontation; sie sind andererseits ein Eingreifpotential bei Aufstands- oder Sezezzionsgelüsten. Ungarn hat aber keine gemeinsame Grenze mit einem Nato-Land. Im Kriegsfall müßten die Truppen erst die CSSR, Österreich oder Jugoslawien durchqueren. Ein Abzug aus Ungarn hätte also vor allem innenpolitische Bedeutung. Ein Land, das sich den Reformen anschließt, bedürfe keiner militärischen Drohungen mehr. Denn die Entfremdung zwischen Staatsmacht und Bevölkerung werde entschärft. Selbst ein Frühling in Prag würde heute, wo auch in Moskau lindere Lüfte wehen, sowjetischerseits eher begrüßt als abgewürgt werden. Der Abzug wäre überdies eine Geste, die Sympathien schafft.

Was für Ungarn gilt muß anderswo jedoch nicht auch gelten. Die CSSR und die DDR grenzen unmittelbar an ein konventionell hochgerüstetes und mit fremden Armeen vollgestopftes Nato-Land, die Bundesrepublik. In dieser Region bleibt ein sowjetischer Truppenabzug, auch wenn er bis zur Jahrtausendwende vorgesehen ist, noch unmittelbar an Fortschritte in den Abrüstungsverhandlungen gebunden. Aber auch hier könnte es ja noch Überraschungen geben.

Erhard Stölting