HOLLYWOODS SCHÖNSTE LÜGE

■ Film-Musicals im Sputnik Südstern

Film-Musicals sind ein bißchen wie Seifenblasen oder UFOs: Wenn man sie nicht mit eigenen Augen gesehen hat, möchte man meinen, sowas könne es nicht geben. In Singin‘ in the rain läuft ein Mann die Wand hoch, und etwas später durch sie hindurch. Sowas ist sinnlos, erlogen und unmöglich. Normalerweise würde man sich das von keinem Menschen gefallen lassen (außer vielleicht im Science-Fiction oder Horrorfilm, aber da sind das dann keine Menschen, jedenfalls keine normalen). Im Film-Musical ist das selbstverständlich, und es wäre unnütz und sinnlos ihnen eine Verschleierung der Realität vorzuwerfen (sie entstanden am liebsten im Krieg, als die Zuschauer halb am Verhungern waren und auf der Leinwand We are swimming in the money gesungen wurde).

Im Film-Musical geht es immer um Karriere: die amerikanische Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Ideologie. In Singin‘ in the rain darf Gene Kelly gleich zu Anfang sein Leben erzählen, und weil man parallel dazu sehen kann, was er wirklich erlebt hat, weiß jeder Zuschauer, daß Gene Kelly lügt. Die geldgierigen Hollywood-Bosse feierten mit ihrem Lieblingskind vor allem sich selbst, andererseits bot diese Goldgrube eine ausgezeichnete Bühne für Experimente und Erfindungen der Regisseure und Choreographen: In Singin‘ in the rain veranstaltet Donald O'Connor die vielleicht verrückteste Solonummer in der Geschichte des Film-Musicals, Parodie und Anbetung des Geschäfts zugleich. Er springt durch Kulissen, wälzt sich über den Boden, deformiert sich Gesicht und Körper an allen möglichen Gegenständen - und tanzt und singt dabei: Make 'em laugh, wie man Leute zum Lachen bringt.

Gene Kelly schwärmte über die Kameraführung Busby Berkeleys: „Die Kamera stand manchmal fünf Meilen hoch und fuhr dann herunter. Sie fuhr in ein Auge hinein und kam auf den Straßen des Broadway wieder heraus. Er brachte Klaviere über Wasserfälle und ließ Mädchen in Formationen schwimmen.“

Im Film-Musical passiert alles nur, weil es wunderbar aussieht: In Singin‘ in the rain schmeißt einmal eine Frau einer anderen Frau eine Sahnetorte ins Gesicht, nur ist das keine Sahnetorte sondern eine Musical-Torte aus knall -bunter Creme - was, ins Gesicht geschmissen, besonders widerlich aussieht und besonders schön in den Farben wirkt.

Das Film-Musical ist die puritanischste Form, die Hollywood je geschaffen hat. In Singin‘ in the rain schleppt Gene Kelly „sein“ Revue-Girl in ein leeres Studio, um das Ich -liebe-Dich für sie als Filmkulisse zu inszenieren: Er schaltet die Scheinwerfer ein, läßt einen idealen rosa Himmel aufleuchten, setzt rote Lichtpunkte und stellt schließlich die Windmaschine auf ein leises Lüftchen. Er beginnt für sie zu tanzen, und am Ende finden sich beide auf der bereitstehenden Leiter wieder: Sex passiert im Musical überall, nur nie direkt, und niemals im Bett. Ganz zu schweigen von Busby Berkeleys überdimensionalen Bananen, zwischen denen seine Revue-Girls tanzen, während die Kamera atemberaubende Fahrten unternimmt.

Was in vielen Film-Musicals als Entzauberung der Filmindustrie vorgeführt wird - die Kulissen, Requisiten, Kameras und Windmaschinen - verklärt das Show-Business noch um eine Stufe mehr: die in rotes Licht getauchte Windmaschine verschönt Gene Kellys Revue-Girl - und sich selbst gleich mit; und die Scheinwerfer sind nicht nur Scheinwerfer, sondern fast schon künstliche Sonnen.

Das Film-Musical feiert den vollkommenen Menschen - was auf der Bühne niemals möglich wäre, erlaubt die Filmtechnik durch Erholungs- und Schminkpausen. Wenn sie minutenlang in atemberaubender Geschwindigkeit durch die Kulissen tanzen, findet sich kein Schweißtropfen und kein Zeichen physischer Erschöpfung auf ihren Gesichtern, nicht mal schnellerer Atem ist vorstellbar: Die totale Beherrschung des Körpers, der keinen Naturgesetzen, sondern nur noch der Laune des Regisseurs gehorcht.

Und auch die Natur ist dem Musical feindlich gesinnt: Wenn Gene Kelly in Singin‘ in the rain sein großes einsames Glückssolo tanzt, ist es ein ganz sauberer, ganz unregnerischer Regen: ein wunderschönes Wasserspiel, gänzlich unnütz und sehr kostbar. Der Regen ist Kellys Tanzpartner und fast schon ein Musikinstrument. Wenn es im Film-Musical regnet, dann nur, damit wunderbare Menschen wunderbar gelbe Mäntel tragen können, die auf wunderbare Weise mit dem tiefblauen Hintergrund korrespondieren.

Das Film-Musical war die schönste Lüge, die Hollywood je hervorgebracht hat, und am schönsten war sie in Technicolor und CinemaScope: A star is born von George Cukor. Erzählt wird die Geschichte eines kleinen Mädchens, das sich zum berühmten Filmstar hochdient. Da wird ein Star aufgebaut und verkauft wie anderswo eine neue Automarke. Für ihren Ruhm wird ihr Ehemann zum Säufer, und geht am Ende ins Wasser, um seine Gattin von einer lästigen Bürde zu befreien. Aber natürlich ist A star is born nicht gemacht worden, um irgendetwas über Hollywood zu erzählen: Es ist ein Film für Judy Garland, die hier ihren großen Song The man that go away singen darf - so wie sie sich in A wizard of oz als Farmerstochter aus Kansas ins Zauberland Oz verirrte, um dort Over the rainbow zu singen, das praktisch zu ihrer Erkennungsmelodie wurde und bei ihrem Tod 1969 die Transusen beiderlei Geschlechts veranlaßte, zu behaupten, daß „sie den Regenbogen wohl jetzt gefunden“ habe.

A star is born wurde gleich damals von drei auf zwei Stunden gekürzt, was Regisseur George Cukor nie autorisiert hat - aber sowas ist dem Kultcharakter von Filmen ja immer zuträglich, zumal, wenn wie in diesem Fall, manche Szenen der ursprünglichen Fassung ganz verloren sind und in dieser rekonstruierten Originalfassung durch Fotos ersetzt wurden.

Es wäre lächerlich zu behaupten, die Verlogenheit des Film -Musicals sei gefährlich, wie es besonders „fortschrittliche“ Menschen immer wieder versucht haben. Die Realität „realistischer“ Filme ist gefährlich, sie bietet die Lösbarkeit von Konflikten: unkenntlich gemachtes Leben. Die Antirealität im Musical bietet Märchen, kenntlich gemachte Illusionen.

Musik, Tanz und Farbe im Film-Musical kündigen den „Ernst des Lebens“ auf und versprechen den Sieg der Liebe und des Glücks. Das ist doch was!

Torsten Alisch

Jeweils 20 Uhr im Sputnik Südstern: „42nd Street“, „Swing Time“ (22.7.), „Singin‘ in the rain“ (23.7.), „A wizard of oz“ (24.7.), „Band Wagon“ (25.7.), „Just Imagine“ (26.7.) und immer um 22 Uhr „A star is born“.