LEBLOS, LIEBLICHES IDYLL

■ Du darfst dein Herz in Heidelberg verlieren. Aber wehe, du verlierst den Paß.

Der 19.März 1971 war ein eiskalter Tag. Ich stieg voller Erwartung aus dem D-Zug und erfuhr die erste Enttäuschung schon im Bahnhof der Stadt Heidelberg. Aus irgendeinem Grund hielt mich ein Polizist an. Nach eingehender Prüfung meines Passes ließ er mich höflich gehen, aber er konnte nicht ahnen, was für einen Schock er mir versetzt hatte. Umständlich steckte ich meine Papiere wieder ein und verfluchte den Tag. Damals konnte ich nicht ahnen, daß der Abschied nach 14 Jahren so erbärmlich sein würde wie der Empfang. Davon aber später.

Heidelberg hat mich beim ersten Anblick überrascht. Ich hatte in Syrien keine genaue Vorstellung von deutschen Städten gehabt, aber es mußten Autobahnen, Eisenbahnen und Schornsteine den Himmel füllen. Nichts davon war weit und breit zu sehen. Eine kleine grüne Stadt lag vor mir. Die Straßenbahn Nr.1 hatte zwei Waggons und war wacklig. Sie ähnelte der Straßenbahn in Damaskus und wirkte beruhigend auf meine angespannten Nerven, doch der Anblick der Hochhäuser im Studentenviertel Klausenpfad schockierte mich wieder.

Wenn man von Heidelberg redet, meint man meistens die Altstadt, doch Heidelberg hat mehrere Gesichter und einen betonsüchtigen Oberbürgermeister. Eines seiner Kunstwerke heißt Emmertsgrund. Ein Wohngebiet. Ich nenne es seit meinem ersten Besuch bei einem arabischen Gastarbeiter nicht Emmertsgrund, sondern Omazugrund. Mein Bekannter wohnte damals in diesem Zementkunstwerk und klagte über einen sich wiederholenden Alptraum von einer Legebatterie. Dieser Traum war für mich Anlaß genug, über das Wohin des Menschen nachzudenken. Wenn Darwin nach all seiner Mühsal einigermaßen die Woher-Frage beantworten konnte, so gab die Neue Heimat eine endgültige Antwort auf die Wohin-Frage: Zum Huhn.

Nach etwa zehn Umzügen innerhalb eines Jahres wurde ich 1972 im Collegium Academicum (CA genannt) aufgenommen. Dort lebte ich mit über 120 Menschen in einem selbstverwalteten Haus. Es war für mich wie ein Leben auf einer Insel. Doch das Miteinanderleben war trotz aller Probleme möglich. Nur in der Weihnachtszeit wurde das Haus zu einem Geisterschloß. Die meisten Studenten fuhren, wenn auch auf Umwegen, zu ihren Eltern. Die Ausländer und ein paar abtrünnige Deutsche blieben da.

Am 6.März 1978 um fünf Uhr morgens wurde das Haus gewaltsam in ein Verwaltungsgebäude der Universität verwandelt. Noch heute, zehn Jahre danach, bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich den Bericht über die Räumung lese.

Die Heidelberger Stadtverwaltung ist sprachlich nicht begabt. Fremde sind für sie nur die Touristen, und hier spart sie weder mit Herzen, noch mit Hinweisen auf touristische Attraktionen. Doch die seßhaften Italiener, Griechen, Türken, Spanier, Jugoslawen, Araber, Asiaten, Afrikaner und Lateinamerikaner können das Heidelberger Lied nicht mitsingen. Aufenthaltserlaubnisformular läßt sich nicht einfach reimen. Nichts in der Welt hat mich je wieder so abgestoßen wie ein Ausländer, der bei einer Feier in der Uni ernsthaft „Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren“ sang.

Die Hauptstraße gleicht heute einem Schlauch, der Touristen einsaugt, für Stunden zermürbt und ausgelaugt wieder ausspuckt. Die kleinen Läden, die früher die Straßen säumten, sind zugrunde gegangen. Nicht einmal die Kitschromantik über Heidelberg als Studentenstadt gilt heute noch. Der Unicamp steht in all seiner Häßlichkeit nun außerhalb der Stadt im Neuheimer Feld.

Die Sanierung der Altstadt vertrieb immer mehr Studenten in die Weststadt und nach Handschuhsheim. Dort trifft man ein anderes Heidelberg: Kaum Touristen, dafür spielende Kinder. Eines Tages wird die Stadtverwaltung Maßnahmen ergreifen müssen, um dem Image Heidelbergs gerecht zu werden und um die Touristen, die vergeblich nach dem alten Flair Heidelbergs Ausschau halten, weiter anzulocken. Sie wird Studenten und arbeitslosen Jugendlichen einen Job anbieten, etwas gammelig und verschlafen auf der Hauptstraße auf und ab zu gehen. Was mir aber immer noch in der Hauptstraße gefällt, sind die Fassaden, Dächer und Fenster der Häuser, deren Erhalt der Gnade der Nichtbombardierung Heidelbergs zu verdanken ist.

Heidelberg ist von der Natur begnadet. Ein Spaziergang an beiden Ufern des Neckars ist erholsam. Auch das Neckartal Richtung Neckargemünd hat seinen Reiz. Der Philosophenweg, den man von der Altstadt aus über die alte Brücke leicht erreichen kann, sollte man an sonnigen Tagen aufsuchen. Von da oben hat man einen guten Blick auf die Stadt mit dem Etikett romantisch.

Heidelberg mit einem Herz statt einem Punkt auf dem I wird vor allem im Ausland als die Stadt der Romantik verkauft. Eine Stadt, in der sich sogar ein Prinz in eine Bürgertochter verlieben kann. Ein solcher Kitsch ist keine Heidelberger Erfindung. Es ist ein fast food für die Armseligen aller Länder. Daß die Heidelbergerin Silvia den schwedischen König heiratete, hat mit Heidelberg nichts zu tun. Sie könnte aus Ulm oder Herford stammen, denn kennengelernt haben sich König und Bürgertochter weit weg von Heidelberg: im Olympischen Dorf in München.

Neben dem Homo erectus heidelbergensis (Heidelbergmensch) waren im Laufe der Geschichte noch einige andere Berühmtheiten in Heidelberg. So der Sattler Friedrich Ebert, der später erster Reichskanzler der Weimarer Republik wurde. Opitz, Brentano, die Brüder A.und M.Weber, Bloch, Hegel, Bunsen, Jaspers und nicht zuletzt C.H.Becker sind einige der Vielen, die gewollt oder ungewollt zum Ruf Heidelbergs beitrugen.

Zwei Menschen in Heidelberg schätze ich ihrer Satire wegen besonders: die Karikaturistin Marie Marcks und den Bürgermeisterkandidat (immerhin haben 3.400 Bürger der Stadt ihn verstanden) und Wunderhorn-Verleger Manfred Metzner. Er setzte sich für die Verteidigung hiesiger und ausländischer Literatur und Kunst radikal ein. Soupault, Achternbusch, Apollinaire, Arrabal, Buselmeier, Eisner, Gumbel, Hiller, Toller, Theobaldy und Burkhard sind einige seiner Autoren(innen).

Vor 14 Jahren habe ich Manfred Metzner zum ersten Mal in der Redaktion der Zeitschrift 'Carlo Sponti‘ gesehen. Damals bot er mir die Möglichkeit, unzensiert bei 'Carlo Sponti‘ zu veröffentlichen. Nach der Zeitschrift kam 1976 der Carlo -Sponti-Kultur-Zirkus. Danach kam der Verlag. Erst waren es 15 Spontaneisten, heute sind es nur noch drei Praktiker.

Einer der langweiligsten Kulturgrößen Heidelbergs ist für mich Klaus Staeck. Nichts, aber wirklich nichts, was dieser Mann anfaßt, behält Schärfe und Witz. Sicher gefallen seine Strauß-Plakate einigen leicht zufrieden zu stellenden Betrachtern, die John Heartfield für eine Zigarettenmarke halten. Mir wäre seine Arbeit im Grunde gleichgültig, wenn er nicht die Sache der Ausländer auf eine seiner Fahnen geschrieben hätte. Er geniert sich dabei nicht, den Judenstern, den sechs Millionen Opfer auf dem Weg der Vernichtung trugen, mal italienisch und mal türkisch zu colorieren, je nach dem, wie der Markt es verlangt.

Für Kulturschaffende verlor Heidelberg mit dem Niedergang der Studentenbewegung an Anziehung. Die Subkultur der 60er und Anfang der 70er Jahre wurde von der Stadtverwaltung finanziell trocken gelegt. Erst seit 1984 fing die GAL an, sich für die freien Kulturgruppen einzusetzen. Heidelberg ist im Vergleich zu den Angeboten anderer Städte ein großes Dorf. Das Gesicht Heidelbergs, das der Stadt einen sehr einfachen Anfang nach dem zweiten Weltkrieg ermöglichte, vertrocknet zu einer Maske, die die Stadt erdrückt.

Das beste Kino ist immer noch das „Gloria“ auf der Hauptstraße. „La Strada“ habe ich hier mit Genuß nachgeholt. Die städtische Bühne hatte ihre beste Zeit Ende der 70er Jahre schon hinter sich. Die Studiobühne, die dem Theater angeschlossen ist, steht heute leer. Angeblich, weil sie kein Personal haben. Nur Kressnik und sein Ballett liefern Impulse. Ab Ende Januar '87 spielte das „Taeter-Theater“ unter der Leitung Wolfgang Graczols in der Zigarrenfabrik. Das freie Theater gewann auch ohne Zuschuß die Zuneigung vieler Heidelberger, doch ab März '88 mußte das Haus schließen. Nun hoffen Künstler wie Publikum, daß das „Taeter -Theater“ ab September im renovierten Haus wieder spielen kann.

Im Keller des romantischen Seminars spielen freie Theatergruppen, so z.B. das Kabarett „die Stichlinge“. Hier lohnt sich bestimmt reinzuschauen. Es lohnt sich allerdings nicht über schlagende Verbindungen und ähnliche Männersaufundraufvereine in Heidelberg auch nur ein Wort zu verlieren.

Im Mai 1985 hat mir die Botschaft meines Landes einen neuen Paß ausgestellt. Mein alter Paß war am 2.Mai abgelaufen. Der neue mußte also auf den 3.Mai datiert werden. Der syrische Beamte schrieb aber statt dessen den 10.5.85. Nun mußte ich beide Pässe zur Ausländerbehörde mitnehmen, damit sie meine Aufenthaltsberechtigung vom alten auf den neuen Paß übertrugen. Ich ging ahnungslos hin, gab beide Pässe ab und wartete. Eine junge Frau mit einer Edelpunkfrisur teilte mir knapp mit, daß ich die Aufenthaltsberechtigung verloren habe und keine Aufenthaltserlaubnis mehr besitze, sondern nur noch bis zum 30.August ausländerbehördlich (d.h.polizeilich) erfaßt sei. „Warum?“ wollte ich wissen. „Sie hielten sich vom 3. bis zum 10.Mai ohne gültigen Paß, d.h. illegal in der Bundesrepublik Deutschland auf. Sie haben gegen das Ausländergesetz verstoßen.“ Es half nicht, der Frau zu sagen, daß es nicht mein Fehler war.

In der syrischen Botschaft war man freundlich, formulierte eine schriftliche Entschuldigung und korrigierte den Fehler, doch ein kleiner Beamter in einer muffigen Heidelberger Amtsstube erkannte die Verlängerung trotzdem nicht an. Ein kleiner bürokratischer Fehler und 15 Jahre Leben in der Bundesrepublik zählen nicht mehr. Eine Katastrophe - für einen Ausländer allerdings keine Seltenheit. Ein guter Rechtsanwalt konnte erst Anfang August die Sache zum guten Ende bringen. Ich bekam eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.

Mit einer Wunde verließ ich Heidelberg. Dennoch ist es meine zweite Heimatstadt geblieben, gleichgültig ob die Ausländerbehörden es erlauben oder nicht.

Rafik Schami