Atlanta-Parteitag als Forum der Opposition

Gerangel um Führungsanspruch beim demokratischen Konvent als ideologischer Kampf / Aggressive Medien-Kommentatoren und die Frage nach der „normalen Politik“ / Drei Parteitage in einem: die Convention der Parteispitze, der Delegierten und der Medien  ■  Von Norman Birnbaum

Parteitage in den Vereinigten Staaten ähneln Jahrmärkten, auf denen um politische Positionen gefeilscht wird. Demokratische Parteitage dienen darüber hinaus seit einigen Jahren als Treffpunkt der zersplitterten politischen und sozialen Opposition. Zum Ärger der Parteibosse benutzen die Kritiker die Parteitage als Foren für genau die tiefgreifenden Konflikte, die das Parteiestablishment normalerweise herunterspielt oder sogar verleugnet.

Auch der Parteitag in Atlanta letzte Woche war so ein Ereignis. Das Gerangel um den Führungsanspruch - welche Rolle sollte Jesse Jackson übernehmen - war und ist im Grunde ein ideologischer Kampf.

Welche Forderungen sollte die Partei nach acht Jahren Reaganismus für den Wahlkampf aufstellen? Wie können die Schwarzen, denen immer noch ihr Anspruch auf Gleichstellung vorenthalten wird, in die normale Politik integriert werden? Was ist normale Politik - vor allem, wenn ein keifendes Pack aggressiver Medienkommentatoren Status quo-süchtig entweder Possen reißt oder Ideen zensiert, die den Kapitalismus, Imperialismus oder Rassismus in den USA kritisieren.

In Atlanta haben mindestens drei Parteitage stattgefunden: Zum einen gab es die Convention der Parteispitze: das Tauziehen zwischen Jesse Jackson, Michael Dukakis und dem Multimillionär und Vizekandidaten LLoyd Bentsen. Jackson und Dukakis bemühten sich außergewöhnlich erfolgreich, ihre eigenen Anhänger zu disziplinieren. Zum anderen gab es die Convention der Delegierten: das Treffen der Senatoren, Kongreßabgeordneten, Gouverneure, Bürgermeister, Wahlkampfhelfer und Aktivisten von Gewerkschaften und Oppositionsgruppen. Außerdem gab es natürlich die Convention der Medien: das nächtliche Medienereignis, das die meisten Zuschauer nur interessierte, als Jackson, und weniger als Dukakis, seine Rede hielt. Bei der Convention der Parteispitze war interessant, daß die Mehrheit von Dukakis Delegierten zusammen mit den Jackson-Delegierten Steuereröhungen für die Reichen und eine Erklärung gegen den Ersteinsatz von Atomwaffen forderte.

Die Führungsriege um Dukakis hielt diese Forderungen allerdings für politisch schädlich und forderte ihre Delegierten auf, dagegen zu stimmen. Auch bei dem Vorschlag, einen unabhängigen Palästinenserstaat zu unterstützen, hatte Jackson eine Mehrheit der Delegierten hinter sich. Die Parteiführung setzte durch, daß darüber nicht abgestimmt wurde. Doch die Tatsache, daß der Vorschlag überhaupt diskutiert wurde, bedeutet einen großen Durchbruch. Bisher hatte die Israel-Lobby in der demokratischen Partei jegliche Kritik an Israel verhindern können.

Außerdem konnte Jackson eine Veränderung des Parteistatuts durchsetzen. Selbst in Bundesstaaten, wo Jackson eine Mehrheit der gewählten Delegierten bekommen hatte, stimmten die von der Parteiführung aufgestellten Delegierten alle für Dukakis - und versuchten so, den Erfolg des schwarzen Kandidaten zu neutralisieren. Das soll in Zukunft anders werden.

Bei der Convention der Delegierten war interessant, daß etwa ein Viertel der Delegierten Schwarze und die Hälfte Frauen waren. Es gab auch viele Hispanics und einige Indianer. Die Convention war also keine Zusammenkunft weißer protestantischer Männer aus nordeuropäischen Ländern - wie sie von Senator Lloyd Bentsen repräsentiert werden. Der Parteitag war weniger Ausdruck der Parteimaschine als Reflex der vielen sozialen und politischen Gruppen in den USA.

Bei der vielleicht wichtigsten Convention, dem Parteitag der Medien, war interessant, auf welche Themen sich die Journalisten stürzten. Ob Jackson, Dukakis und Bentsen eine Troika bildeten, was „dem machthungrigen“ Jackson einen „illegitimen“ Einfluß auf den Wahlkampf verschaffen würde, war eine zentrale Frage, die den verhaltenen Rassismus der Kommentatoren offenbarte. Ein anderes Thema war der ideologische Konflikt zwischen Bentsen als Vertreter der prokapitalistischen und militaristischen Demokraten und dem Rest der Partei. Beliebt war auch die Behauptung, die Demokraten würden nicht den durchschnittlichen Amerikaner vertreten.

Unamerikanisch ist in dieser Sichtweise jeder, der nicht höhere Rüstungsausgaben und eine globale Konfrontationspolitik unterstützt, um die imperiale Vorherrschaft zu erhalten. Dabei entlarven sich die Journalisten selbst als verschreckte Gestalten, die wie alle Gesellschaftsgruppen in Panik geraten, sobald sie im Zuge sozialer Veränderungen etwas verlieren könnten.

Professor Birnbaum ist Experte für deutsch-amerikanische Beziehungen in Washington.