Moderne Zeiten im Dschungel

Die Adivasi, Ureinwohner Indiens, kämpfen ums Überleben / Ihre Existenzgrundlage, der Dschungel, wird industriell vernutzt / Die traditionell starke Stellung der Frau in diesen Stammesgesellschaften wird durch „Modernisierung“ unterhöhlt: Sie sollen sich dem Hindu-Ideal der folgsamen, unselbständigen Frau anpassen  ■  Von Christa Wichterich

„Den Dschungel haben sie weggetragen.“ Die alte Gond-Frau weist auf die wenigen Bäume und das karge Gestrüpp, das von ihrem Lehmhaus aus zu sehen ist. Sie gehört zu jenen 56 Millionen Stammesangehörigen, die die Hindus benavasi, Waldbewohner, oder adivasi, Ureinwohner, nennen. Doch wie die Alte leben die meisten benavasi heute nicht mehr im Wald. Er wurde ihnen geraubt, „weggetragen“ und in Papier, Möbel, Kunstseide und Hockeyschläger verwandelt.

Die benavasi waren Jäger- und Sammlerinnen-Gesellschaften wie aus dem anthropologischen Bilderbuch. Der artenreiche Dschungel war ihre Existenzgrundlage, ihr Arbeits- und Kulturraum, den sie als lebenden Organismus achteten. Die Frauen waren das Rückgrat der sich weitgehend selbstversorgenden und selbstgenügsamen Wirtschaft. Sie sammelten und verarbeiteten nicht nur eine Vielzahl von Waldprodukten, sondern leisteten auch den Löwenanteil der Arbeiten auf den Feldern nach der Brandrodung. Die Verantwortung für den Lebensunterhalt in der Subsistenzwirtschaft zahlte sich für sie in einem hohen Prestige und in sozialer Selbstständigkeit aus: bei der Verheiratung hatten Mädchen Mitsprache-, wenn nicht gar Entscheidungsrechte, Ehetrennungen und Wiederheirat galten als selbstverständlich, die Sexualmoral war äußerst liberal, die Frauen standen im Ruf, zurückzuschlagen, wenn ein Mann die Hand gegen sie hob - all dies unterschied die Stammesfrauen grundlegend von Frauen der Hindu -Gesellschaft.

Für die Sozialbeziehungen der benavasi war das Feiern von ebenso großer Bedeutung wie die Arbeit. Nostalgisch berichten die Alten davon, wie nächtlang durchgetanzt und gesungen, der selbstgewonnene Alkohol genossen und kräftig angebändelt wurde. Doch die Alten verklären ihr früheres Leben nicht: „Wir lebten Seite an Seite mit den Tigern. Unser Leben war begrenzt, es war gefährlich, auf die andere Seite des Baches zu gehen.“ Die Härte der Arbeit, die Beschränktheit ihrer Lebenschancen und ihrer Handlungsräume und die Abhängigkeit von den Unwägbarkeiten der Natur haben sie nicht vergessen. Aber sie fühlten sich reich in bezug auf die mögliche Nutzung des Waldes, ihre Kultur und die verfügbare Zeit. Ihre Arbeit war der Natur angepaßt, aber keinem anderen Zeitmaß unterworfen. Moderne Zeiten

Mit dem Beginn der Kolonialzeit wurden immer größere Waldgebiete zum Staatseigentum erklärt und Nutzungsrechte an Privatunternehmer versteigert. Für die benavasi bedeutete dies Enteignung: sie hatten keinen freien Zugang mehr zum Wald und seinen Ressourcen. Zwar ist es ihnen erlaubt, sich für den Eigenbedarf zu versorgen, doch die Nutzung ist nun von der Gunst und der Bestechung von Forstbeamten abhängig. Durch den kommerziellen Raubbau, dem Ausbau von Industrie, der Infrastruktur oder der Errichtung von Staudämmen ist der Waldbestand seit der Unabhängigkeit im Jahr 1947 um fast zwei Drittel von 29 auf elf Prozent der Gesamtfläche Indiens geschrumpft.

Während die Frauen früher in der Nähe des Dorfes Feuerholz und Viehfutter sammeln konnten, müssen sie heute kilometerweit und stundenlang gehen. Ihre Ernährung verschlechtert sich mit dem schwindenden Vorrat an Waldprodukten. Wanderfeldbau ist wegen der massiven Abholzung ökologisch nicht mehr tragbar und fast überall verboten. So sind die benavasi gezeungen, Landwirtschaft zu betreiben.

Auch die Geschichte dieses Wechsels könnte in einem anthropologischen Lehrwerk stehen: statt Gemeinschaftseigentum mit individuellen Nutzungsrechten gibt es nun Privateigentum an Boden, und quasi automatisch werden fast ausschließlich Männer Eigentümer. Zur Bodenbereitung kommen Pflüge zum Einsatz, und das Pflügen wird mit patriarchalischer Selbstverständlichkeit für Frauen tabuisiert: der „weibliche“ Hackbau gilt nun als „primitive“ agrarwirtschaftliche Form.

Staat und Hindus überlassen der Stammesbevölkerung in der Regel nur das schlechteste Land. So garantiert der Wald nicht mehr das Überleben und die Landwirtschaft auch nicht. Erwerbsarbeit wird immer mehr zur Notwendigkeit. Der Alltag wird vom Krisenmanagement geprägt: Der Staat verweigert den benavasi Landrechte, Hindus wollen ihnen ihr Land streitig machen, Forstbeamte „schützen“ den verbliebenen Wald immer stärker vor ihnen, Geldverleiher und Alkoholhändler lauern darauf, in den Ernährungsengpässen vor der Ernte ihre Gutgläubigkeit und Rechtsunkundigkeit auszunutzen und sie in Schuld und Abhängigkeit zu befördern.

Auch die Frauen werden aktiv in das System einbezogen, das den Dschungel industriell ausbeutet und zerstört. Im Ost -Godavari-Distrikt im südindischen Andhra Pradesh bietet die Papierindustrie ihnen Lohnarbeit bei der Abholzung an. Auf ein Geldeinkommen angewiesen, sägen sie nun selbst die Äste ab, die ihren Familien generationenlang das Überleben gesichert haben.

Noch immer gelten die Frauen - gleichwertig neben den Männern oder gar hauptverantwortlich - als Ernährerinnen der Familien. Doch wo sie auch Erwerbsarbeiterinnen werden, stets liegen ihre Löhne, trotz meist gleicher Arbeit, unter denen der Männer. In vielen Regionen verkaufen die Frauen mühsam gesammeltes Feuerholz an Händler oder ihre Männer befördern es in die nächste Stadt. Ihre Verdienstspanne sinkt ständig, weil die Wege, die sie dafür zurücklegen müssen, immer weiter werden. In einer klassischen Verkehrung von Ursache und Wirkung werden diese Feuerholzverkäuferinnen nun sowohl in der indischen Öffentlichkeit als auch in der internationalen Diskussion über Umweltzerstörung als Verursacher der Abholzung gebrandmarkt. Die Opfer erscheinen als Schuldige.

In Orissa unweit der Stadt Bubaneshwar war der Verkauf von Brennmaterial ebenfalls die Haupteinkommensquelle der Frauen. Nun legt die Regierung einen Nationalpark für Elefanten an und hindert die Frauen am Betreten des Waldes.

Im Grenzgebeit von Uttar Pradesh und Madhya Pradesh pressen die Frauen noch heute aus Samen und Nüssen Öl. Für den indischen Lebensmittelkonzern „Dalda“ schwirren immer wieder Aufkäufer aus, die den Frauen die Ölsamen für ein paar lumpige Rupies abzuhandeln versuchen. In finanziellen Notsituationen verkaufen die Frauen die begehrten Samen. Wenig später müssen sie dann gegen den Eigenbedarf teures Öl kaufen, zum Beispiels „Dalda's“ Pflanzenfett in der Dose. So werden sie gleichzeitig Zulieferinnen der Industrie und Konsumentinnen ihrer Produkte.

In dem Maße, wie der Waldbestand schwindet, wächst die Arbeitsbelastung der Frauen: die Versorgung für den Eigenbedarf kostet mehr Zeit und Energie und ein Geldeinkommen wird immer dringlicher. So geraten sie in eine Spirale zunehmender Arbeitslast sowohl im Subsistenz- als auch im Erwerbsarbeitsbereich. In den Familien sind Kämpfe ums Geld an der Tagesordnung. Die Männer versuchen Bares abzukassieren und damit ihre Bedürfnisse u.a. nach Schnaps, Tabak und einem Transistorradio zu befriedigen. „Schlaue“ Frauen kaufen sofort Kerosin, Salz und Lebensmittel davon, damit die Männer möglichst wenig in die Finger bekommen. Gewalt und Gegenwehr

Das Mehr an Arbeit und Ausbeutung ist gekoppelt mit neuen Formen der Gewalt. Forstbeamte belästigen und erpressen holzsuchende Frauen, Vorarbeiter und Lastwagenfahrer bedrängen und vergewaltigen Waldarbeiterinnen. Die Frauen wagen sich nur noch in Gruppen in den Wald. Im Süden Uttar Pradeshs umzingelten Gond-Frauen einen Anmacher und ließen ihn zur Strafe stundenlang in brütender Sonne stehen. Einen anderen wickelten sie in einen Sari und stellten ihn im nächsten Dorf zur Schau.

Weil die Frauen bekanntermaßen hübsch sind und als sexuell freizügig gelten, nehmen sich Hindus das Recht, sie als Freiwild zu behandeln. Hindus, die als Regierungsbeamte in benavasi-Gebieten tätig sind, Händler oder Angestellte der Holzunternehmen, bändeln mit benavasi-Frauen an. Ehen, die so in Orissa und Andhra Pradesh geschlossen wurden, enden meist damit, daß der werte Hindu-Ehemann auf Nimmerwiedersehen verschwindet - sei es, daß er versetzt wird oder die benavasi-Frau leid hat und vielleicht zu seiner Hindu-Frau zurückkehrt, sei es, daß er eine Hypothek auf das benavasi-Land aufgenommen hat und sich aus dem Staub macht, wenn seine Geschäfte nicht klappen. Die Frau bleibt mit den Kindern und nicht selten mit den Schulden zurück.

Einige Stämme versuchen mittlerweile schon selbst, Kapital aus ihren Frauen zu schlagen. Männer verweigern Frauen in ihren Familien Landrechte. Bhils in Gujarat und Rajasthan schicken ihre Töchter in langen existenzbedrohenden Dürreperioden an die Raststätten der Highways, um dort den Fernfahrern zu Diensten zu sein. Andere Stämme handeln ihre Frauen untereinander, verkaufen in größter Not ihre Frauen und Töchter. „Wir sind kaputt“

Jungli, dschunglig, aus dem Dschungel kommend, unzivilisiert nennen die Hindus die benavasi. Verachtung spricht aus dieser Bewertung und Arroganz. Die benavasi haben seit Jahrzehnten gelernt, daß sie rückständig sind und ihre Kultur minderwertig. Diese Stigmatisierung hat einen enormen Anpassungsdruck erzeugt: die benavasi wollen wie die sein, die ihnen scheinbar überlegen sind. Die Frauen lernen, daß es sich nicht gehört, ohne Bluse zu gehen, gemeinsam mit Männern zu essen und mit fremden Männern zu reden. Bei der Erziehung steht ein neues Frauenbild Modell: die schüchterne, hinter dem Mann zurückgetretene Frau. Mädchen wird beigebracht, scheu zu sein, nicht mit Jungen zu spielen, nur nach Aufforderung zu reden. Frauen legen sich wie Hindu-Frauen das Sari-Ende über den Kopf und tupfen sich rote Farbe auf die Stirn oder den Scheitel, als Zeichen dafür, daß sie verheiratet sind. Vereinzelt haben benavasi auch begonnen, bei der Hochzeit von den Brauteltern Mitgift zu fordern, statt daß der Bräutigam, wie bisher üblich, einen Brautpreis zahlt. Während alte Frauen noch stolz auf ihre eigene kulturelle Identität und sich ihrer Leistungen sehr bewußt sind, ist die Verunsicherung bei den Jungen, besonders in Stadtnähe, am größten. „Schwester“, sagten Khaiwar-Frauen im Süden Uttar Pradeshs zu mir, „wir haben kein Gehirn im Kopf“ und „Unsere Lieder sind nicht gut, die Lieder aus der Stadt sind gut“.

Das Prinzip Jungli hat im Extremfall eine traumatische Geringschätzung der eigenen Person und Kultur bewirkt. Es bleibt der Schmerz einer gebrochenen Identität: „Schwester, wir sind kaputt.“

Während einige Stämme militanten Widerstand gegen den gewaltsamen Einbruch von moderner Ökonomie und Hindu-Kultur leisten, sind die meisten hin- und hergerissen zwischen der Moderne, in der Wohlstand und Glück käuflich scheinen, und der Bindung an ihren alten Lebensraum, den Wald und ihr Land und die eigene Kultur. Dabei ist die Orientierung der Männer auf die Geld- und Konsumwirtschaft meist größer als die der Frauen. Auch wenn sie von Saris aus Nylon und den Schmachtfetzen der Hindi-Filmindustrie fasziniert sind, ist ihnen die Selbstversorgung, die Bebauung der eigenen Felder und der Erhalt des Waldes das Wichtigere. Auf die Frage nach der Perspektive, wenn in einem Jahrzehnt gar kein Wald mehr vorhandenist, antwortete eine Gond-Frau: „Dann sterben wir alle.“