Der Oberstleutnant und die Deserteure

Denkmal für Fahnenflüchtige erregt Marburgs Gemüter / Bundeswehr-Kommandant verdammt Gedenken an „Gesetzesbrecher“  ■  Aus Marburg Stefan Reinecke

Marburg, Fachwerkidylle in hessischer Landschaft. Hier trieb während des Zweiten Weltkriegs ein NS-Militärgericht sein Rechts-Unwesen. Hier wurden einige der insgesamt 40.000 Soldaten zum Tode verurteilt, die der Wehrmacht den Rücken kehrten. Auch die Erschießung von russischen Kriegsgefangenen zählt zum dunklen, kaum erforschten Teil der Stadtgeschichte.

Anlaß genug für die Grünen, im Stadtparlament den Vorschlag einzubringen, Pazifisten und Deserteuren ein Denkmal zu setzen. Weder der Regierungspartner SPD noch die lokale Öfentlichkeit waren begeistert. Doch zur Affäre wurde die Debatte erst, als sich Oberstleutnant Hans-Jürgen Leyherr in der Stadtzeitung 'Express‘ zum Thema äußerte. Ein Denkmal für solche Gesetzesbrecher, so der Kommandant der Marburger Garnison, sei eine „Schande und ein Angriff auf diesen Rechtsstaat„; auch Geiselnehmer zu würdigen, „wäre die logische Folge“. Der Befehlshaber über 3.000 Soldaten äußerte in patriarchaler Denkart seine Hoffnung, daß „unsere Marburger Stadtväter sich nicht entwürdigen lassen“ und womöglich dem Beispiel ihrer Genossen aus dem Norden folgten. (In Kassel hatte die SPD eine umstrittene Gedenktafel für Deserteure anbringen lassen; in Bremen ließ der SPD-Senat eine Deserteur-Skulptur aufstellen.)

Seine stramm nationale Verachtung für Fahnenflüchtige ergänzte der Standortälteste noch mit einigen historischen Einsichten: Auch in der Hitler-Diktatur, so Leyherr, gab es „ein Recht, das vom Volk anerkannt war, sonst wäre die NSDAP nie an die Macht gekommen. Es war ja der Wunsch des Volkes, und das war die damalige Rechtsordnung, der sich die damals genauso verpflichtet gefühlt haben wie wir heute unserer demokratischen Grundordnung. Da sehe ich überhaupt keinen Unterschied.“

Die Mischung aus Vaterlandsideologie und Geschichtsverfälschung entfachte einen kleinen Sturm in der Stadt. Der Literat Gerhard Zwerenz warf dem Kommandanten vor, von der Kriegswirklichkeit „soviel Ahnung zu haben wie Lieschen Müller von höherer Mathematik“, und forderte Leyherrs Untergebene auf, den Dienst zu quittieren. Und der Marburger Faschismusforscher Reinhard Kühl versuchte ebenso wie SPD-Landrat Kurt Kliem, die Historie wieder zurechtzurücken. Die Grünen brachten das Leyherr-Interview gegen den Willen der CDU, die prompt bundeswehrfeindliche Agitation witterte, auch im Kreistag Marburg-Biedenkopf zur Sprache.

Doch hier schaltete sich wieder der Koalitionspartner SPD ein. Daß die Grünen die Absetzung des Oberstleutnants betreiben, kommt den Sozialdemokraten durchaus ungelegen. Nicht nur weil Leyherrs Rundumschläge - wie die Genossen messerscharf erkannten - wenig tauglich sind, um bei „kritischen Jugendlichen“ staatstragendes Vertrauen zu fördern, sondern auch, weil die reaktionären Äußerungen des Kommandanten das ungetrübte Verhältnis zur Bundeswehr belasten. Und an diesem liegt der Volkspartei viel.

Schließlich streben die Sozialdemokraten schon seit 1983 nach einem unverfänglichen Mahnmal für den Frieden, an dem sich auch die Bundeswehr freuen kann. Denn, so Oberbürgermeister Drexler, ein Deserteurs-Denkmal würde „Widerspruch provozieren und statt Betroffenheit Unfrieden hervorrufen“. Der hat sich nun trotz aller sozialdemokratischen Beschwichtigungsversuche eingeschlichen. Doch ob damit schon der „große Friede mit den Tätern“, den der Grüne Stadtrat Alex Müller gerne durchbrochen sähe, aufgekündigt ist? Die realo-orientierten Marburger Grünen jedenfalls werden wegen des Mahnmal-Zwistes keinen ernsten Krach in der vergleichsweise harmonischen rotgrünen Zusammenarbeit riskieren.