Aus dem Leben der Martha J.

■ „Martha Jellneck“, das Erstlingswerk des Hamburger Filmemachers Kai Wessel, erzählt die Geschichte einer alten Frau, die einen Kriegsverbrecher entlarvt. Eine Rezension und ein Gespräch mit dem Regisseur

Für einen 27jährigen Filmemacher, der zur Pressevorführung seines Erstlingswerks extra aus Hamburg anreist, wirkt Kai Wessel erfreulich uneingebildet und bescheiden, obwohl sein Film „Martha Jellneck“ die Sensation beim letzten low -budget-Festival in Hamburg war: „500 Leute kamen zur Premiere, das ist für Hamburg schon bemerkenswert“, understatet er sympathisch, noch weit entfernt von der schnoddrigen Arroganz, mit der berühmte Filmemacher auf Presseterminen von sich reden machen. Blondgeschopft steht er Rede und Antwort, und mehr als das aus seinem Munde rührend klingende Lob, „daß dieser Film so gefeiert wurde wie ein Film dieses Genres schon lange nicht mehr“, ist ihm an sichselbstmeinender Anerkennung nichts zu entlokken. Wessel, der als Fahrer und Standfotograf angefangen hat, „dann Regieassistenz und einige Kurzfilme“, schwärmt lieber von der Schauspielerin Heidemarie Hatheyer, von der sein Film ausschließlich lebt: „Heidemarie ist eine absolut gute Schauspielerin, es ist ganz selten, daß man jemanden verpflichten kann, der es in dieser Weise schafft, neunzig Minuten zu überstehen, sie ist in jedem Bild drin, und das in einem low-budget-Film, bei dem man von seinen Möglichkeiten her sehr beschränkt ist; wir konnten uns nur sehr wenige

Drehtage leisten, und deshalb mußte sehr viel an einem Tag gedreht werden. Nach Drehschluß mußte sie den Text für den nächsten Tag lernen, dann ging's weiter“.

Vor 25 Jahren stand Heidemarie Hatheyer zum letzten Mal vor der Kamera, aber vorher war sie ein halbes Jahrhundert ganz oben im Filmbusiness, 33 Filme, unzählige Theaterrollen, Gastspiele in München, Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Staatsschauspielerin in Berlin. Trägerin der Josef-Kainz -Medaille, des Grillparzer-Rings und des Filmbands in Gold für „hervorragendes Wirken im deutschen Film“. Dem Kritiker Rudolf Oertel gefiel vor allem die „dramatisch wilde Liebhaberin“ der frühen Filme, für „Reclams deutsches Filmlexikon“ war sie nach ihrem Debut 1938 „die Ausnahmeerscheinung im deutschen Film“.

Immerhin ist es Kai Wessel und seiner kleinen Crew gelungen, diesen Alt-Star für eine 500.000 Marks-Produktion mit 25 Drehtagen zu gewinnen, ohne Atelier, ohne Studiogarderobe. Das Drehbuch gefiel ihr, und sie lud Wessel und die Drehbuch-Autorin Beate Langmaack nach Zürich ein, um sie in „Augenschein zu nehmen“. Was sie damals noch nicht wußte, für Regisseur, Kameramann und Drehbuchautorin ist „Martha Jellneck“ ein Erstlingswerk: „Man hätte mir sagen müssen,

daß das alles Anfänger sind“, ärgert sie sich später während der Dreharbeiten manchmal. Aber das meint sie nicht so ernst.

Nun zum Film: Manchmal lesen wir in den Boulevard-Blättern von einem „Wiedersehen nach 45 Jahren“, und man fragt sich, wie ist das möglich, 45 Jahre von den Verwandten unentdeckt zu leben, wo wir doch alle so fein ordentlich gemeldet sind und so, und doch ist es manchmal so oder wenigstens beinahe so. Die alte Frau Jellneck, die arthrosegepeinigt ihre Wohnung nicht mehr verlassen kann, traut ihren Ohren nicht, als Thomas, der ihr jeden Mittag das „Essen auf Rädern“ bringt, einen gewissen Franz Laub beiläufig erwähnt: „Franz Laub, das ist komisch, so hieß doch auch mein Bruder“, wundert sich „Oma Jellneck“, und weiß doch, daß dieser Herr mit ihrem Bruder, der anno 44 in Frankreich gefallen ist, nichts zu tun haben kann. Oder doch? Der einmal gefallene Name jedenfalls läßt sie nicht mehr in Ruhe, es ist so, als erhielte ihr armseliges jeden-Tag-das-gleiche-Leben zwischen Bett und Küchentisch wieder einen Sinn, sie erinnert sich, recherchiert und folgert schließlich mit detektivischer Akribie: Dieser Franz Laub kann nur der nach einem Feuermal benannte „Herz“ sein, ein ehemaliger SS-Offizier, der damals vor den Augen des wirklichen Franz Laub ein französi

sches Kind erschoß, und später, um den Kriegsprozessen zu entkommen, den Namen des gefallenen Bruders annahm.

Um diese Theorie zu beweisen, schreibt sie Laub und lädt ihn zum Kaffee ein. Und entlarvt ihn. Laub bestätigt Marthas Anschuldigungen, fühlt sich aber von der kranken Frau nicht bedroht und schlägt ungerührt die Tür hinter sich zu.

Der Film erinnert bis zu dieser Szene an ein Kammerspiel. Kaum Schnitte, kaum Zoomfahrten, die Kamera bleibt sehr lange einfach stehen und läßt Martha Jellneck spielen. „90 Minuten ausschließlich in einer Wohnung, das ist schwierig“, erklärt Wessel gerne: „Man kann zwar ranfahren oder wegfahren, aber wir wollten keine aufgesetzten Kamerasperensken machen, sondern möglichst die Kamera stehenlassen, wenn nichts passiert“. So ist der Film von seiner Machart her in angenehmer Weise eher konventionell, alles was geschieht, geht von „Martha Jellneck“ und nicht von einer virtuosen Kamera aus. Der Film besticht nicht durch aufwendige Ausstattung, wie es die amerikanischen Produktionen so sehr lieben, sondern durch eine sehr einfache Bildsprache, mit vielen witzigen Details, die, so unwichtig sie auch zunächst anmuten, doch immer handlungstragend sind.

So wie die Morphium-Spritze,

mit der Martha ihren von Altersschwäche gebeutelten Hund töten will und mit der sie schließlich das Essen des Kriegsverbrechers „Laub“ vergiftet. Der Mensch stirbt, Martha Jellneck wird von der Polizei auf einer Trage abtransportiert. Obwohl diese Wende schon länger in der Luft lag, geht alles so schnell, daß man gar nicht mehr Luft holen kann, die Spritze ins Essen, und schon rafft Martha ein paar Sachen und verschenkt sie. Eine späte Rache: Das hat man dieser alten und gebrechlich vor-sich-hin -vegetierenden-Frau nicht zugetraut. Listig funkeln ihre Augen: Das war richtig, heißt das. Recht hat sie.

Frage an Kai Wessel: Wie kann man mit diesen bescheidenen Mitteln einen so in sich stimmigen und spannenden Film drehen? „Wir haben uns sehr genau auf die wenigen Drehtage vorbereitet, wir wollten das Drehbuch vorher auflösen, die Einstellungen präzise setzen, damit das Gesamtkonzept optimal umgesetzt werden kann. Das kann meiner Meinung nach nicht geschehen, wenn man morgens an den Drehort geht und sich dann fragt, was machen wir jetzt eigentlich?“ Die Arbeit hat sich gelohnt. Herzlichen Glückwunsch!

Regina Keichel

Deutschland 1988, Regie: Kai Wessel, D: Heidemarie Hatheyer, Dominique Horwitz, Angelika Thomas u.a.

Atlantis, 20.30 Uhr