VOM HORROR DES „GUTEN“ MENSCHEN

■ Zur Retrospektive Carl Theodor Dreyers im Arsenal

Eigentlich müßte dieser Text von Fotos erdrückt werden, von Fotos aus Dreyers Filmen: von Tribunalen, weltlichen und kirchlichen; von Männergremien, die über Kindesmörderinnen, Hexen und Heilige zu Gericht sitzen; von Vätern, die ihren Vorstellungen gemäß Töchter zur Ehe vergeben; von Familientyrannen, Pastoren, geistigen Würdenträgern, Richtern - und Dichtern. Von dieser ganzen verschworenen (Männer-)Sekte, die im Namen ihrer eigenen Anschauung, Meinung und Moralvorstellung über andere Leute richtet. Diese „Ahnen-Galerie“ müßte noch ergänzt werden durch Fotos von anderen selbstherrlichen Gremien und Götzen: einer Stalin-Kommission etwa, einem McCarthy-Ausschuß, von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften und - weil sich Dreyers Filme nicht auf konkrete Vorfälle beziehen, sondern auf eine Geisteshaltung - von Fotos eines Kreuzberger Autonomen-Plenums oder der taz-Sexismus -Kommission.

Inquisitoren und die einfältig Frommen - wohlwollend könnte man auch von Menschenfreundlichkeit sprechen sind die Agenten des Bösen. Dies Irae (Vredens Dag / Tag des Zorns, 1943) zeigt das mit aller Unerbittlichkeit: Die wahrhaften Hexen sind nicht die armen Seelen, die man auf dem Scheiterhaufen verbrennt, sondern die redlichen, leblosen, dogmatischen „guten“ Menschen. Ein Wertesystem, das jeden so zu durchdringen vermag, daß selbst die als Hexen denunzierten Unschuldigen schließlich selbst an ihre Schuld glaubten.

„Das Ärgernis Dreyer liegt darin, daß hier ein Mann von seltener künstlerischer Kraft mit angespannter Intelligenz den Nachweis der Unverbesserlichkeit unserer Welt zu erbringen versucht“ (Filmkritik 2/1963).

Der Name Carl Theodor Dreyer ist untrennbar mit seinem Film Die Passion der Jeanne d'Arc (1927) verknüpft, einem Stumm-Film über die Sprache, über die Sprache als Foltermittel, über Sprachterror. Auch in seinem letzten Film Gertrud (1964) stellt er unsere andressierten Rituale bloß: Immer wieder sitzen zwei „Gesprächspartner“ auf einem Sofa und schauen vor sich hin. Worte sind ihre einzige Kommunikationsbasis; Reden, ohne den anderen zu sehen. „Aber man braucht Wörter, die aus dem Innersten des Herzens, der Seele kommen...; was mich interessiert und was das Publikum interessiert, das sind die Seelen, das Gesicht und alles, was hinter dem Gesicht ist.“ (Dreyer)

Damit das niemand falsch versteht: Ein Dreyer-Film zeigt keine surrealen Innerlichkeitsqualen. Es ist nicht das Jenseits, das hervordringt, nicht die ideale „Tiefe“ oder das Erbärmliche, sondern das verdrängte, zensierte Diesseits: Als Inger in Ordet (Das Wort, 1954) gestorben ist, tröstet der Pastoren-Vater seinen Pastoren -Sohn damit, daß sie jetzt im Himmel sei, doch der Sohn sagt, untröstlich: „Aber ich habe auch ihren Körper geliebt.“

In Dreyers Werk suchen die Menschen nach Liebe und finden in aller Regel den Tod. In Michael (1924) gibt es einen ganzen Katalog von Liebesformen: platonische und unterdrückte Liebe, Eifersucht und Leidenschaft. Als der Held am Ende stirbt, sagt er: „Jetzt kann ich ruhig sterben, denn ich habe eine große Liebe gesehen.“

Gertrud ist eine von Dreyers Heroinen: Ketzerin. Ihre Vorstellung von der Liebe, darüber, wie Frauen ihr Leben und die Männer in ihrem Leben wählen sollten, sind ein Ärgernis für die Gesellschaft im Stockholm des Jahres 1907. Gertrud offenbart, wieviel Tod es braucht, damit Platz für Leben wird. Sie, halbemanzipiert und mit rührendem Glauben an die Männer, verzichtet ihrer Idee vom Leben zuliebe auf ein eigenes Leben. Eine Tote zu Lebzeiten, zwischen Liebessehnsucht und Sterben.

Freud nannte den Tod: „Wertsteigerung durch Vergänglichkeit“, und erst der Gedanke an den Tod solle das Leben erträglich machen. Montaigne schrieb: „Wer die Menschen sterben lehrt, würde sie leben lehren.“ So ist denn auch die Totenerweckung am Ende von Ordet - auf den ersten Blick: ein Wunder, die Wiederherstellung der Harmonie - in Wahrheit ein Triumph der Unordnung.

Es mag jetzt überraschend erscheinen, daß dieser Mann, der sich oft mit dem Christentum und der unterdrückenden Rolle der Kirche auseinandergesetzt hat, einen der größten Horror -Filme aller Zeiten gedreht hat: Vampyr (1931). Dieser halluzinatorische Film besitzt keine der sonst üblichen Merkmale: weder Schock noch Greuel oder auch nur physische Gewalt. Er überläßt alles der Imagination des Zuschauers. Während der Arbeit an Vampyr erläuterte Dreyer einmal:

„Man stelle sich vor, daß wir in einem gewöhnlichen Zimmer sitzen. Plötzlich wird uns mitgeteilt, daß sich hinter der Tür ein Leichnam befindet. Von einem Augenblick zum anderen ist der Raum, in dem wir sitzen, völlig verändert: alles hat ein anderes Aussehen angenommen; das Licht, die Atmosphäre haben gewechselt, wenn sie auch physisch die gleichen geblieben sind. Der Grund ist der, daß wir uns verändert haben und daß die Dinge so sind, wie wir sie erfassen.“ Anders gesagt: Die Welt ist so, wie wir sie sehen wollen. (Das muß natürlich bei jedem, der mit seinen Neins und seinen besserwisserischen Meinungen durch die Gegend läuft, heftigen Widerspruch auslösen ...)

Vampyr wird aus der Sicht eines Urlaubers erzählt, der in verschiedene Vampir-Morde verwickelt wird und sich gezwungen sieht, zu glauben, was er doch nie richtig begreifen kann. Dreyer beschränkt sich ganz auf die Poesie des Schrecklichen: Eine Aura unheimlicher und unwirklicher Schönheit durchzieht den Film; die Halbdämmerung, in der Vampyr spielt, entspricht genau seinem Thema: dem Vampirismus und dem damit verbundenen Blutsverlust. Es ist weder Leben noch Tod, es ist unmöglich zu entscheiden, wo die Fakten aufhören und die Einbildung beginnt. In einer der meisterhaftesten und ergreifendsten Szenen der gesamten Film -/Kunst-Geschichte träumt der Held (und wir mit ihm!), daß er beerdigt wird und gleichzeitig seiner eigenen Beerdigung beiwohnt: Der Held liegt tot, aber mit weit offenen Augen in seinem Sarg; durch ein im Deckel eingelassenes Fenster sieht er zuerst die Vampirin und ihren üblen Gehilfen, wie sie den Sarg zuschrauben, und dann, auf dem Weg zu seinem (unserem) Begräbnis, den Himmel, die Bäume und die Häuser.

Der überwältigende Horror dieser Szene beruht nicht nur auf der „natürlichen“ Todesangst des Zuschauers, sondern auch auf der Abneigung gegen das Ritual des Todes. Diese großartige Szene, als die Vampirin kalt und gefühllos durch die Scheibe den Held (uns!) erblickt, steigert den Horror noch durch die Andeutung, daß der Tod nicht das Ende sein muß und daß die Besessenheit vom Bösen weit schlimmer ist. Dreyer bringt es fertig, uns vor der heimgesuchten Vampirin fürchten zu lassen und gleichzeitig unser Mitleid zu erregen: Sie, ein Werkzeug der bösen Mächte gegen ihren Willen, ist schwächlich und muß sich den strengen Gesetzen des Übernatürlichen unterwerfen.

Dreyers Werk definiert die Bedingungen des Menschenlebens: zu leiden und Leiden zuzufügen - obwohl eigentlich alle immer nur das „Gute“ wollen...

Torsten Alisch

Alle Filme Dreyers bis Ende August im Arsenal. Genaues Programm siehe La Vie.