Schwieriges Heimspiel

„Dorfspiel '88“: Der Theaterhof Priessenthal spielt Theater mit dem Dorf, in dem er lebt  ■  Das Dorf

Das Jahr 788 n.Chr.: Der geistliche Gesandte des Salzburger Abts wird auf das Podium am Kinderspielplatz getragen. Die Bauern in zotteligen Fellen haben ihn schon auf den Klettergeräten erwartet. Jetzt treten sie vor, unterwerfen sich zur Musik aus der Zeit und kriegen per Urkunde Land dafür. Der Wolfswinkler, als Hochzeitslader ans öffentliche Reden gewöhnt, steht auf einem Karren und erklärt: Mit dieser Inventarisierung seines oberbayerischen Besitzes will der kirchliche Leibherr den Besitzansprüchen Karls des Großen einen Riegel vorschieben. Die Bauern machen mit, weil ihnen Subventionen versprochen werden: mächtiger Schutz.

Der christlichen Erfassungsaktion verdanken 63 oberbayerische Gemeinden an Salzach, Alz und Inn ihre „erste schriftliche Erwähnung“ und damit ihre diesjährige 1.200 -Jahr-Feier. Das Dorf Mehring ist eine davon. 600 Seelen hat der Ort selbst, gute 3.000 mit dem Drumherum. Zentrale Lage im oberbayerischen Chemiedreieck. Hoechst im Westen, Wacker, Silizium weltweit, im Osten. Die Chemie gibt mindestens einem aus jeder Familie, was die Landwirtschaft schon lange nicht mehr bringt und was so harmlos „Arbeit“ genannt wird. Der Hof

Das Jahr 2088 n.Chr.: Dort, wo Chemie und Landwirtschaft ihre alltägliche Verbindung eingehen, an der Rampe der Raiffeisengenossenschaft, geht an diesem Sonntag die Mehringer U-Bahn ab. Die Fassade weist den Weg zum „Exit“ und zur Bahnhofsmission. Personal und Fahrgäste haben „Boss“ auf die Spitze getrieben und sind mit zotteligen Plastiktüten bekannter Marken von vor 100 Jahren bekleidet. Kinder verkaufen Tickets nach Paris, Moskau oder München, und Adi fährt wie schon immer den Gabelstapler der Genossenschaft. Nur daß der inzwischen zum Taxi mutiert ist und die Kunden mitsamt Sofa auf die Rampe hievt. Ansonsten ist die letzte Station erster vordergründiger und gemeinsamer Auftritt der Priessenthaler Theatergruppe. Den Erzähler im Karren haben sie außen vor dem schwarzen Vorhang gelassen, der das Raiffeisengelände von der Dorfstraße trennt, und gemeinsam stimmen sie den Rausschmeißer an: „Das kann doch nicht alles gewesen sein, ein bißchen Sonntag und Kinderschrei'n.“ Alter Biermann, lokal variiert in weiteren Strophen.

Der Hof im Mehringer Priessenthal ist seit 1971 in der Hand von Zugereisten. '88 wohnen 16 Menschen dort. Ein Bauer, eine Heilpraktikerin, eine Organisatorin und SchauspielerInnen. Denn seit '79 geht von dort Theater los. Mit Zirkuszelt, politisch, bundesweit. An Mehring sind die Zirkuswagen und auf LKWs gepfropften Campinghänger immer vorbeigefahren. Das Spiel

1896, immer noch post christum: Priessenthalerin Marlen Breitinger liegt auf dem Teppich hinter der Balkontür. Rechts und links stehen zwei schrägbeinige Fünfziger-Jahre -Sesselchen und draußen an der hölzernen Brüstung mit den Geranien lehnt das Objekt fensterlnder Begierde. Der Nebenbuhler rüttelt an der Leiter. Die Veteranen von 1870, dargestellt durch den gegenwärtigen Veteranenverein, schauen von der Bank aus zu. Der Kletterkünstler kann sich durch einen Rutsch am Drahtseil auf den Balkon des Nachbarhauses retten. Die antike Feuerspritze, die auch das Datum für den zeitlosen Breitensport geliefert hat, spritzt hintendrein. Marlens Soufflierauftrag an diesem Spielplatz ist erledigt.

Laienspiel hat in dieser Gegend Tradition. Die PrissenthalerInnen proben mit den Naturtalenten seit Jahren den Wildschütz und andere Krippenspiele, und '86 wurde der Grundstein für das „Dorfspiel“ gelegt: Mit „Ja, so warn's“. Marlen sagt: „Die waren der Puffer.“ Zum Beispiel zwischen Hoftheater und Reiterverein, der die angreifenden Hunnen stellt. Die LaienspielerInnen haben den Kontakt zu den 200 möglich gemacht, die beim Dorfspiel in Kostüme schlüpfen. Sie waren Seismograph, was gerade noch vermittelbar ist an Kirchenkritik und Anmerkungen zur „guten alten Zeit“. Laientheater plus Priessenthal liefert Mehring den kleinen Unterschied zu den 1.200-Jahr-Feiern der anderen 62 Gemeinden und eine Invasion von Schaulustigen, die sich hinter dem Erzählerkarren her durchs Dorf quetschen. Von Station zu Station, und das Fernsehen und die Videogruppe sind immer schon da. Das Zelt

Aber auch in Mehring steht im Mittelpunkt der zweiwöchigen Festlichkeiten das Bierzelt mit Musik und Schweinefleisch auf Papptellern von der Sparkasse und gelegentliche Exkursionen zum Keulenschwingen auf dem Sportplatz oder zur Vereinsfahnenweihe in Sankt Martin und anderen üblichen Dorfspielchen. Das „Dorfspiel '88“ also nur ein Saufvorwand und Klamauk von vielen?

Die PriessenthalerInnen sehen das anders. Sind sich sicher, trotz mancher Klamotte - ein Römer, der den Rückzug verpaßt hat, reitet durchs Bild - „was in Bewegung gesetzt“ zu haben. So mit dem Hexenprozeß, gegen dessen Darstellung es anfangs Widerstand gab, weil „es sowas bei uns doch nicht gegeben hat“. Oder wenn sich der weißhaarige Bürgermeister, obergefreiter U-Bootfahrer im Zweiten Weltkrieg, in der Originaluniform, die die Theaterleute besorgt haben, aufs Podium stellt. Zugesagt hatte er lange. Aber als er wenige Stunden vor dem Spiel das Tuch überzieht, befingert er beklommen das Hakenkreuz. Selbstverständlich ist die Heimarbeit für die PriessenthalerInnen auch soziale Rückversicherung, Schwarzarbeit auf Gegenseitigkeit. Sie haben sich nützlich gemacht. „Es machen sich nicht soviele Leute Mühe um die Mehringer.“ Ole

1988: „Ole, ole, ole, wir sind die Schampions.“ PriessenthalerInnen und Einheimische hopsen im Takt der Trachtenband auf Tischen und Bänken des Festzelts und recken die Arme zum Victorygruß. Für Land-WGs sind Heimspiele alles andere als leicht. Und wenn sie noch soviel Theater machen. Die meisten „Kommunen“ treten deshalb gar nicht erst an. Der Theaterhof Priessenthal hat es gestern nochmal getan. Ein letztes Mal.

Christoph Busch