ALLES WEGKOMPONIERT

■ Das Europäische Jugendorchester in der Waldbühne

Daß der Samstagabend warm und lauschig war, ist nichts als glücklicher Zufall. Deshalb muß man doch keine Mahler -Symphonie in der Waldbühne aufführen. Einer Theorie Max Webers zufolge ist die Entstehung der autonomen Instrumentalmusik klimatisch zu erklären. Der begünstigte Süden traf sich in Amphitheatern und sang griechische Tragödien, der Norden zog sich vor den Wetterunbilden in die Kammer zurück und improvisierte auf der Laute. Anders sind Beethoven, Brahms, Mahler nicht zu verstehen. Sonaten, Quartette, Symphonien sind Musik für Innenräume, spezielle, gegen die Umwelt abgeschottete Säle in der Stadt. Das ist ihnen als Sehnsucht nach dem Außen, der „Natur“, übrigens eingeschrieben.

„Sie ist immer und überall Naturlaut“, schrieb Mahler an Bruno Walter über seine 3. Symphonie. Walter hat Mahler am Attersee besucht, wo sie komponiert wurde. Aber nicht draußen, in der Natur, sondern in seinem Komponierhäuschen, direkt am See. Mahler wollte nämlich Ruhe. Die Aufgabe der Seinigen war es, alles Geräusch fernzuhalten. Walter schreibt: „Es war 'bei Todesstrafe verboten, ihn dort zu stören. Um die von Mahler geforderte Ruhe zu gewährleisten, hatten wir ein ganzes System ausgesonnen, die Kinder still zu halten. Es war ihnen nicht nur verboten, einen Fuß auf Mahlers Wiese zu setzen oder am See bzw. im See zu spielen und zu baden, sondern auch auf der Straße und in den Häusern durften sie sich nicht mucksen, was wir durch Bitten und Versprechungen, Naschwerk und Spielzeug erreichten. Kam ein Leierkastenmann oder wandernde Musikanten, so stürzte man sogleich mit einem „Abfindungszehnderl“ auf sie los, daß sie mitten im Ton verstummten. Aber auch jedes Getier: Hunde, Katzen, Hühner und Gänse konnten ihres Lebens in unserer Nähe nicht froh werden.“

Daraus wurde Mahlers Dritte, eine sechssätzige, anderthalbstündige, keines wegs immer leicht zugängliche Symphonie, für die Mahler einen Apparat von wohl über zweihundert Musikern auf die Bühne stellt, inklusive Altsolo, Knaben- und Frauenchor. Die Sache ist nun, daß dieses Potential praktisch nie ganz genutzt wird. Die meisten fortissimo-Ausbrüche werden durch Decrescendi rasch dementiert, dramatische Höhepunkte gibt es kaum. Der Apaarat dient vielmehr zum Facettenschleifen. Die Dritte ist ein unendlich nuanciertes, farbenreiches kammermusikalisches Kombinationsspiel. Ein Spiel von innen und außen auch, im dritten Satz, wenn ein außen postiertes „Posthorn“ sich dem Orchester anzunähern scheint, sich aber nie ganz mit ihm vereint und zum Schluß wieder entfernt. Das ist sehr leise und dauert sehr lange, und ist so melancholisch, insistent und süß, daß es weh tut.

Der Einsatz der Menschenstimmen in dieser Symphonie hat genausowenig mit Kraftentfaltung zu tun. Er bezieht sein ganzes Pathos daraus, daß er episodisch bleibt, beschränkt auf die beiden kürzesten Sätze, den vierten und den fünften. „O Mensch“, singt Jessye Norman, „die Welt ist tief!“. Der Knabenchor wird anderthalb Stunden lang bereitgehalten, um im fünften Satz, kaum fünf Minuten lang, unisono mit den Glocken, nichts als „Bimm bamm, bimm bamm“ zu singen. „Da sprach der Herr Jesus“, singt der Frauenchor, „bimm bamm, bimm bamm“, singt der Knabenchor, „ich hab‘ übertreten die zehn Gebot'“ bekennt Jessye Norman, „bimm bamm, bimm bamm“, antwortet der Knabenchor. Im sechsten Satz, einem ausschweifenden, selbstgenügsamen Abgesang des Orchesters, schweigen die Menschen wieder, und darum sind sie da.

Mit „Naturlaut“ meint Mahler ja nicht, daß die Es -Klarinette Vogelgezwitscher nachahmen kann. In der Dritten geht es um diese Grenze, diese Zweideutigkeit: die Beredtheit des scheinbar unartikulierten Naturlauts im „sentimentalen“ (so Mahlers Vortragsanweisung) Posaunenrezitativ des ersten Satzes und die Naturhaftigkeit des scheinbar artikulierten menschlichen Stimmklangs, der ganz ins Orchester eingewoben ist. Das ist sehr delikat, sehr prekär, sehr raffiniert. Aber davon hat man in der Waldbühne nichts gehört.

Bruno Walter bewunderte Mahler gegenüber die Schönheit des Attersees. Mahler winkte ab: „Sie brauchen gar nicht hinzusehen - das habe ich schon alles wegkomponiert.“

Ist es nicht Häme, Mahlers Dritte der „Natur“ wieder auszusetzen, der sie gerade in einem artifiziellen Kraftakt abgerungen wurde? Eine ökologische Katastrophe. Ich hasse das Vogelgezwitscher, das gegenüber dem sublimierten nur roh und aufdringlich wirkt, und das Hundegebell. Ich hasse die wohl Hunderte von Eltern, die meinten, ihren Kleinkindern ein prägendes musikalisches Früherlebnis bescheren zu sollen. Ich hasse die Kinder, die nicht stillhalten, sich die Knie aufschlagen und aus Leibeskräften schreien. Ich hasse PanAm, die Mahlers Dritte an der leisesten Stelle überfliegt, so daß man Abbado nur noch fein und exakt gestikulieren sieht, ohne die Musik dazu zu hören, und das Publikum das sich darüber amüsiert, und die Leute, die zwischen den Sätzen klatschen und, schlimmer noch, aufspringen, um zu den Bratwurstständen zu rennen.

Claudio Abbado dirigierte das Jugendorchester der Europäischen Gemeinschaft, das Gustav Mahler -Jugendorchester, das er eigens für junge Leute aus Nicht-EG -Ländern gegründet hat, den Tölzer Knabenchor, den Wiener Jeunesse Chor, den Philharmonischen Chor Berlin und Jessye Norman.

Darüber kann ich nichts sagen. Was soll man über ein Kunstwerk sagen, das vom Rahmen überwuchert wird? Es wird schön gewesen sein. Die Waldbühne war fast ausverkauft. 20.000 wunderkerzenschwenkende Musikfreunde erlebten einen stimmungsvollen Abend.

Jugendorchester wie diese oder auch die Junge Deutsche Philharmonie sind meist besser als alles was der verbeamtete Musikbetrieb zu bieten hat. Das liegt daran, daß die Probenarbeiten meist intensiver sind und daß junge Musiker noch Engagement zeigen - und sei es nur, weil sie noch keines haben - und schlicht daran, daß sie jung sind, was in diesem anstrengenden Beruf ebenso von Vorteil ist wie im Sport.

Am Sonntag in der Philharmonie konnte man das hören. Vaclav Neumann dirigierte, diesmal allerdings nur das EG-Orchester, ein anmutiger, biegsamer, stolz posierende Klangkörper. Bei Dvoraks Achter war das schön. Bei Mahlers Liedern aus „Des Knaben Wunderhorn“, mit Brigitte Faßbaender als Solistin, und im Adagio von Mahlers Zehnter wurde ein bißchen zu akkurat über die Schründe und Schroffheiten hinwegmusiziert. Kann sein, daß der gemütliche Tscheche es so wollte. Vor Jahren habe ich die Junge Deutsche Philharmonie unter Bertini mit diesem Adagio gehört. Die waren wilder und genauer.

Thierry Chervel