Normalisierung in einem Prager Gefängnis

Das Verhältnis des SDS zu Prag war widersprüchlich / Viele Genossen witterten in Dubceks Reform den Kapitalismus, andere fuhren hin, und einige kamen erst sehr spät zurück / Sibylle Plogstedt wurde für anderthalb Jahre inhaftiert  ■  Sibylle Plogstedt

Mein blauer VW-Käfer fuhr vor mir her. Erstaunlich, die haben ihn wieder flott gemacht. Mein Wagen bremste unerwartet, so daß wir fast auf ihn auffuhren. Sein Fahrer, ein Offizier der Prager politischen Polizei, hatte einen Fasan gejagt, den er jetzt für zu Hause einpackt. Selbstversorgung hat Vorrang, auch wenn gerade eine politische Gefangene zur Grenze gebracht werden soll.

Noch einmal versuchte ich, die Felder, die kleinen Orte zwischen Prag und Zinnwald in mich aufzunehmen, um sie immmer bei mir zu haben. Für lange würde ich nicht zurückkommen, das war mir klar. Denn die Ausweisung hatte ich unterschreiben müssen, bevor man mich in den schwarzen Wolga setzte, der innen keine Klinke hat. Daß es 20 Jahre sein würden, hatte ich jedoch nicht geglaubt. Bis heute wird mir das Einreisevisum verweigert.

Eigentlich war es eher ein Zufall, der mich 1968 nach Prag gebracht hatte. Eine Seminararbeit über den Wandel der Industriesysteme in Ost und West an der FU Berlin, die ich mit zwei Kommilitonen schreiben wollte. Über die CSSR gab es noch keine deutschsprachigen Bücher. Da mußten wir selber hinfahren, um etwas herauszubekommen. Wer hätte schließlich auch gedacht, daß gerade in diesem August, in diesen Semesterferien der Einmarsch erfolgen würde? Meine beiden Kommilitonen hatten sich unmittelbar nach der Invasion wieder abgeseilt. Das sei ihnen zu gefährlich mit den Panzern. Vielleicht waren sie auch nicht so fasziniert wie ich von dem gewaltfreien Widerstand, der das ganze Land über Nacht verwandelte. Ein Veränderungsprozeß, der für mich als Außenstehende weit eindrücklicher war als der Reformprozeß selbst. Und den SDSlern, die 1968 den Einmarsch für richtig hielten - und von denen gab es genug -, mochte ich mich nicht anschließen. In ihren Augen, die bald darauf ehrfürchtig auf das Bildnis des Großen Vorsitzenden Mao ruhen sollten, sollte in Prag nichts anderes als ein neues bourgeoises System hergestellt werden.

Ich bin am Ende nicht nur während des Einmarsches geblieben. Sondern einfach, um mitzubekommen, was aus diesem Widerstand werden sollte. Also suchte ich mir einen Praktikumsplatz am soziologischen Institut der Akademie der Wissenschaften und eine Gruppe, die überwiegend aus Studenten bestand und mich als Berliner SDSlerin gerne aufnahm. Mit allen Folgen, die Widerstand haben konnte. Denn 1969 war nicht mehr 1968, und Prag war auch nicht Berlin.

Verurteilt wurden wir schließlich unter einem bombastischen Paragraphen. „Antistaatliche und umstürzlerische Tätigkeit“, hieß es da. Nur - das, was die „Bewegung der revolutionären Jugend“, eine der Gruppen, die später in der Charta 77 aufgingen, getan hatte, war nichts anderes als Flugblätter herzustellen und über ganz Böhmen, Mähren bis tief in die Slowakei zu verteilen. Antistaatliche Tätigkeit? Der Inhalt dieser Flugblätter: Am Todestag von Jan Palach, der sich aus Protest gegen die Invasion des Warschauer Pakts verbrannt hatte, sollte die Bevölkerung sich an seinem Grab versammeln. Schweigend, mit Kerzen. Normalisierender Vollzug

Normalisierung in einem Prager Gefängnis - auch die gab es. Als ich 1969 zu Weihnachten in die Bundesrepublik fahren wollte und an der tschechisch-deutschen Grenze festgehalten wurde, da war der Frühling noch nah und die Grenzer wagten noch, mich menschlich zu bedauern. „Legen Sie sich doch ein bißchen hin, Sie werden es noch brauchen“, rieten sie. Und: „Es dauert eine Weile. Für Sie kommt ein Wagen aus Prag.“

Auch bei der Einlieferung ins Gefängnis blieb man freundlich. Meine Zigaretten solle ich mitnehmen. Ich wisse ja nicht, wie schnell ich neue bekäme, sagte die Velitelka, die Wachhabende. Auch das Reisegeld wurde auf einem Konto deponiert. Davon konnte ich Nachschub beim Gefängniseinkauf bekommen, Zubrot zum mageren Gefängnisfraß aus angetrockneten Knödeln mit Sauerkraut, Erbsen oder Linsen.

Schockreaktionen, Hilferufe. Gefangene vor mir hatten sie an die Wand der Einlieferungszelle geschrieben. Wutgraffitis. Diese Reaktionen stellten sich bei mir nicht ein. Die grünen Wände, das Loch in der Ecke namens Klo, die festen Schritte im Flur, das Auge hinter dem Türspion, all das habe ich mit Verwunderung betrachtet. So schlimm fand ich es nicht - jedenfalls noch nicht.

Ich blieb nicht lange allein. Die Prager Gefängnisse waren überbelegt. Allerdings nicht mit politischen Häftlingen. Die Mehrzahl der Frauen saß wegen Prostitution. Eine Minderheit wegen Diebstahl, die bestand, ganz Klischee, aus Zigeunerinnen. In anderthalb Jahren habe ich eine einzige politische Kollegin in einer Zelle getroffen.

Der Alltag im Knast bestand im Zusammenleben mit diesen Frauen. Viele habe ich schätzengelernt, ihnen nachgetrauert, wenn sie vor mir entlassen wurden. „Ich würde dich gern in meiner Tasche mit herausnehmen“, sagte eine, als sie endlich gehen durfte. Das gemeinsame Essen aus den Blechschüsseln, das Schwitzen im zu heißen Sommer und das Frieren, wenn die Heizung im Winter wieder einmal eingefroren war und die Luft an den Scheiben gefror, hatten uns miteinander verbunden.

Es dauerte fast bis Ende 1970, bis das Gefängnispersonal ausgetauscht und seinerseits „normalisiert“ worden war. Diejenigen unter den Wächtern, die zu Brutalität gegen die Gefangenen neigten, wurden noch schärfer. „Deutsche Faschistin“, beschimpfte mich einer der Aufsichtsbeamten, als ich in Anstaltskleidung, dem braunen Trainingsanzug, vor ihm stand. Die freundlicheren hielten sich noch mehr zurück. Menschlichkeit im Gefängnis galt plötzlich als Verrat, als Sympathiebezeugung gegenüber dem Sozialismus mit menschlichem Gesicht.

Verhöre gab es fast täglich. Anfangs geführt in der Art einer politischen Diskussion, und als sie dabei zuwenig über das Innenleben unserer Gruppe herausbekamen, ließen sie mich monatelang in der Zelle schmoren. Ihre Lebenszeit war es ja nicht, die dabei draufging. Dann wechselte die Taktik. Einer war freundlich, der andere war scharf und legte die angeblichen Aussageprotokolle der anderen Gruppenmitglieder vor. Oder man richtete es ein, daß ich Mitangeklagte scheinbar zufällig - auf dem Gang traf. „Der hat also geredet“, schoß es mir dann durch den Kopf. Den anderen wohl auch.

Schließlich, nach über einem Jahr Untersuchungshaft, kam der Prozeß. Unsere Anwälte hatten wenig zu bestellen, einem wurde anschließend die Zulassung für derartige Verfahren entzogen. Die Öffentlichkeit wurde nicht zugelassen. Verhängt wurde nahezu die höchstmögliche Strafe: vier Jahre für Petr Uhl, der damals als Ingenieur arbeitete und heute Heizer ist, und für mich zweieinhalb Jahre. Als ich in Berufung gehen wollte, wurde mein Gefängnisalltag zur Hölle. Über meine Haft vor allem berichteten die internationalen Zeitungen.

Noch heute weiß ich nicht, ob die Frau, mit der ich damals die Zelle teilen mußte, verrückt war oder extrem verfolgt oder ein Spitzel. Jeden Morgen erzählte sie mir, sie sei wieder zu Verhören aus ihrer Zelle geholt worden, während ich geschlafen hätte. Jede Nacht versuchte ich, wach zu bleiben. Es gelang nicht. Durch den - scheinbar freiwilligen - Schlafentzug bekamen Halluzinationen Raum. Auch die schien es mir - waren ferngesteuert. Irgendwann ließ man mich wissen, daß ich entweder die Ausweisung unterschreiben sollte oder aber psychiatrisch behandelt werden würde. Wohl wissend, was politische Psychiatrie in Osteuropa bedeutet, wählte ich das kleinere Übel: die Ausweisung.

Und dennoch, als ich endlich in dem schwarzen Wolga ohne innere Türgriffe an die Grenze gebracht wurde und wieder „draußen“ war - nichts hätte ich mir damals mehr gewünscht, als so schnell wie möglich zurück in meine Zelle zu können.