Durch die Hintertür in die Dritte Welt

■ Die Beteiligung an UNO-Truppen würde der Bundeswehr neue Horizonte erschließen

Das Grundgesetz verbietet den Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes. Aber in den letzten Jahren drängen die USA immer heftiger: Wer sein Öl durch den Golf transportiere, müsse auch die Route schützen - militärisch. Immerhin: Im Mittelmeer hat die Bundesmarine schon Funktionen der US-Flotte übernommen, um deren Intervention im Persisch-arabischen Golf zu ermöglichen. SPD-Abgeordnete schlagen jetzt vor, das Grundgesetz zu ändern und der Bundeswehr „Friedensmissionen“ im Rahmen der UNO zu erlauben. Gestern sprach sich auch SPD-Abrüstungsexperte Egon Bahr dafür aus: „Die Bundesrepublik sollte sich langsam wie ein normaler Staat mit allen entsprechenden Verpflichtungen als Mitglied der Vereinten Nationen benehmen können.“ Bahr plädierte dafür, „rechtzeitig“ eine Grundsatzentscheidung für eine Verfassungsergänzung zu fällen.

Am Anfang der Debatte stand ein klarer Beschluß des Bundessicherheitsrates aus dem November 1982 - die CDU/FDP -Regierung war gerade gewählt: Der Einsatz der Bundeswehr außerhalb der NATO durch das Grundgesetz ist verboten. Auf dieser Grundlage wehrte die Bundesregierung seit 1983 die immer drängender werdenden Bitten der USA ab, doch im Persischen Golf und anderswo stärker militärische Präsenz zu zeigen, um die USA zu unterstützen.

Im Juni 1987 erklärte Kanzler Kohl anläßlich des Weltwirtschaftsgipfels in Venedig, die BRD sei nunmehr bereit, Schiffe der Bundesmarine etwa in den Atlantik (innerhalb des NATO-Geltungsbereichs) zu schicken, um die USA dort zu entlasten. Damit sollte deren Flottenaufmarsch im Persischen Golf indirekt unterstützt werden.

Das Verteidigungsministerium reagierte verstört: Zuerst erklärte man dort, der begrenzte Umfang der Bundesmarine mache die Übernahme zusätzlicher Aufgaben „sehr schwierig“. Später wurde ergänzt, wenn man schon neue Funktionen übernehmen müsse, dann nur vor Nordnorwegen oder im Westatlantik, aber jedenfalls nicht im Mittelmeer. Dort sei man zu stark von den militärischen Interessen und Aktionen der USA abhängig - eine deutliche Anspielung auf den US -Angriff auf Libyen und die US-Truppen im Libanon.

Nur drei Monate später (im September 1987) wurde - all diesen Einwänden zum Trotz - beschlossen: Erstens wird die Bundesmarine - Mangel an Schiffen hin oder her - zusätzliche Funktionen übernehmen. Zweitens: Ihre neuen Aufgaben werden ausgerechnet im Mittelmeer liegen.

Die Mitelmeereinsätze wurden zuerst als „zeitlich befristet“ angekündigt, dann aber immer weiter verlängert und praktisch zu einer dauernden Aufgabe gemacht. Nächste Stufe der Debatte: Ist ein Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Geltungsbereichs denn tatsächlich verfassungswidrig? Das Verteidigungsministerium in Bonn hatte dies zur Jahresmitte 1987 noch mehrfach bestätigt, im November wurde dann aber eine interne Studie bekannt, in der das Gegenteil behauptet wurde. Minister Wörner hatte diese Studie bestellt. Im Juni 1988 ließ sich sein Nachfolger Rupert Scholz mit der Einschätzung vernehmen, die Verfassung enthalte nichts, was einen derartigen Einsatz verbiete. Zwar leistet Außenminister Genscher noch Widerstand, aber prinzipiell wäre damit der Weg frei, die Bundeswehr weltweit, vorzugsweise in der Dritten Welt, militärisch einzusetzen.

Doch noch eine Hürde ist zu überwinden: 87 Prozent der Bundesdeutschen lehnten bei einer Umfrage im letzten November die Entsendung auch nur von Minenräumbooten in den Persichen Golf ab. Damit steht für rechte Politiker auf der Tagesordnung, die politisch-psychologischen Voraussetzungen für den Einsatz der Bundeswehr außerhalb der NATO zu schaffen. Und genau in diesem Moment beginnt die Diskussion um eine Beteiligung der Bundeswehr an „UNO-Friedenstruppen“ mit neuer Schärfe.

UNO-Friedenstruppen: das klingt harmlos, friedlich, schließlich sind sie in vielen Situationen tatsächlich sehr nützlich - etwa wenn das Ende des Golfkrieges überwacht wird. In der politischen Debatte in der BRD zu dem Thema geht es aber um etwas anderes: Wenn die Bundeswehr erst einmal im Rahmen der UNO eingesetzt werden kann, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Einsatz in anderen multinationalen „Friedenstruppen“. Die Intervention der NATO -Länder USA, Frankreich, Italien und Großbritannien im libanesischen Bürgerkrieg 1983/84 wurde auch als eine internationale „Friedenstruppe“ gerechtfertigt. Wenn man, wie die US-Regierung, die Eroberung von Grenada 1983 als Geiselbefreiung ausgibt (obwohl es keine einzige Geisel gab) oder den Kleinkrieg gegen Iran im Golf als „Demonstration der Neutralität im Golfkrieg“, dann sind eine ganze Reihe von „Friedensmissionen“ vorstellbar, die offenen Interventionscharakter tragen.

Und wenn man dann, in einer nächsten Stufe, im Rahmen solcher „internationalen Friedenstruppen“ von NATO-Ländern schon eigene Interventionserfahrungen gesammelt hat - was spricht dann auf Dauer dagegen, unter anderen Bedingungen auch einmal einseitige „Friedensmissionen“ zu unternehmen, wie Frankreich und Großbritannien es auch tun? Ohnehin ist die Diskussion über zukünftige Einsätze der Bundeswehr in der Dritten Welt etwas trügerisch: Bereits heute sind in zahlreichen Ländern der Dritten Welt bundesdeutsche Soldaten präsent, darunter in so repressiven Diktaturen wie Zaire und Togo. Auch der Sudan, Somalia oder das strategisch wichtige Dschibuti werden bereits heute von Bundeswehrausbildern („Beratergruppen“) heimgesucht - im Rahmen der militärischen „Ausstattungshilfe“.

Diese Programme sind in der bisherigen Diskussion nicht problematisiert worden, schließlich geht es dabei nur um die Ausdehnung der Rolle der Bundeswehr in der Dritten Welt, nicht um deren Beginn. Das Ziel besteht letztlich darin, die Bundesrepublik auch militärisch zu einem „ganz normalen“ Land zu machen und die gegenwärtigen „Empfindlichkeiten“ bei einem Einsatz deutscher Soldaten abzubauen. Dann könnte die Bundesrepublik endlich im Rahmen einer informellen NATO -Arbeitsteilung den gewünschten Beitrag zur Wahrnehmung der „geostrategischen Interessen des Westens“ leisten.

Jochen Hippler