K U R T H I L L E R

■ B E R L I N - K U L T U R

Und nun die andere Seite ihres Daseins (das Dasein dieser logischen Sägemühlen hat nämlich eine „andere Seite“!): ihr Gefühlsleben, ihre Relation zu allen Geschenken des Lebens, zu Menschen, Natur, Gestaltungen der Kunst: da lächelt uns dann ernsthaft und wässrig die moralisch nuancierte Schlichtheit des Landpfarrers, die herzige Ahnungslosigkeit des Gänselieschens, die sentimentale Begrenztheit des Ladenschwengels und die impertinente Unduldsamkeit des Börsianers aus ihren bebrillten Angesichtern entgegen. Das sind dann die Herrschaften, denen, trotz jahrzehntelanger Beschäftigung mit den Schriften der Denkhelden, die anthropologischen Typen Forschungsreisender oder Sozialpolitikus oder treuer Beamter... Gipfel der Menschheit bedeuten; denen ein Bierscherz Fritz Reuters, ein Kapitel vom Camenzindischen Seichpeter, der vollzählig ausgestirnte Nachthimmel oder ein mäßig gemaltes Stück Odenwald mit Kühen... Gipfel des Geistes und der Schönheit sind... Es ist der extreme Flügel des Intellektualismus, der in seiner Taktik gegen das Erlesene eng berührt mit der äußersten Nichtintellektualität, mit den Bäurischen und den Bourgeois. Trotz der Stilreinheit, die ihm die raffiniert-einseitige Ausbildung des Verstandesmechanismus verschafft, ist er von „Kultur“ so unermeßlich weit entfernt, durch unüberbrückbare Klüfte von ihr getrennt - dieser Geist der deutschen Professorenphilosophie, diese unbeseelte Phalanx der Nur -Begrifflichen, der Hottentotten der reinen Vernunft. Aber ebenso kulturfeindlich ist die Gegengattung: der deutsche „Dandy“...

Diese sozusagen morphologische Wendung der Persönlichkeit; dieser Grundsatz, das Heer der Menschen nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer intellektuellen und musischen Valeurs, sondern unter dem Gesichtspunkt ihres somatischen Stils einzuteilen; diese Ethik des geordneten Scheitels, des monistischen Oberhemdes und der Ungeistigkeit..., die unter den geschmackvoll angezogenen, sportliebenden und sensitiven, aber unbedeutenden jungen Leuten neuester Salons so zahlreiche Anhänger zählt - sie irrt sich eigentlich in der Normenklatur; denn mit dem „Dandyismus“ der klassischen Pariser Decadence und Oscar Wildes hat sie gar nichts gemein! Nicht nur, weil ihr völlig das ironische Timbre fehlt, sondern hauptsächlich aus diesem Grunde: der klassische Dandyismus geht auf bestimmte neue Formung der Geistigkeiten, der deutsche auf Aufhebung der Geistigkeiten; der klassische spricht das Tiefe in einem gewissen heiteren Tonfall aus, der deutsche spricht es gar nicht aus... Das ist die Formel dieses Unterschieds: Der klassische Dandy protestiert mit Grazie gegen den intellektuellen Ernst, der deutsche Dandy protestiert mit Ernst gegen die intellektuelle Grazie.

Der Text von Kurt Hiller erschien in dem 1913 veröffentlichten Buch „Die Weisheit der Langeweile“. Hiller gehörte in Berlin einige Zeit zu dem Umkreis der „Aktion“, gründete 1910 das „Neopathetische Cabaret“, in dem Georg Heym, Else Lasker-Schüler, Jakob von Hoddis u.a. ihre Gedichte vortrugen. Ausgewählt von

Michael Trabitzsch