Papierflieger, schön.

■ Zur Berliner Aufführung von Philip Glass‘ „1000 airplanes on the roof“

Zart und lautlos gleiten die Papierflieger über die Köpfe des Publikums in der ausverkauften Eissporthalle im Berliner Wedding. Die deutschen Inhaltsangaben von „1000 airplanes on the roof“ fliegen da vorbei, von metaphernfreudigen Zuschauern kunstvoll gefaltet.

Ein Sciene-Fiction-Melodrama von David Henry Hwang (Text) und Philip Glass (Musik). „M“ ist ein Mädchen in New York, arbeitet in einem Kopierladen und lernt einen jungen Mann kennen. Eine unaufdringliche Geschichte - nur, das Mädchen ist etwas seltsam und die Ursache dafür liegt in einer verdrängten Erinnerung. Eine gewöhnliche Geschichte - nur, sie erinnert sich plötzlich daran, von Außerirdischen, damals - in ihrer Jugend - auf der Farm, besucht und entführt worden zu sein. Eine Geschichte, die ab und zu vorkommen soll - nur, die Außerirdischen suchen „Antworten auf die Fragen des Lebens“. Eine tiefenpopuläre Geschichte. Nachdem sie wieder aus ihrer Erinnerung erwacht ist, stellt sie fest, daß sie vier Tage ihres Lebens verloren hat und beschließt, nach einem Nervenzusammenbruch, dem Arzt nicht die Wahrheit zu sagen, um als normal zu erscheinen. Wahrheit und normal sind in Anführungszeichen zu setzen. Man weiß ja, wie das zu verstehen ist. Eine schlechte Geschichte. Und da fliegt sie.

Jodi Long spricht den Text, achtzig Minuten lang, bewegt sich auf einer schiefen Ebene, begrenzt von drei Projektionsflächen, das siebenköpfige Philip Glass Ensemble zu ihren Füßen - ein multimedialer Guckkasten oder mit den Worten Philip Glass‘: „In gewisser Weise kombinieren wir also die Medien Theater und Film. Ich wüßte nicht, daß dies schon so radikal versucht worden wäre.“ Die Wirkung ist tatsächlich verblüffend: Computergesteuerte Dias auf wie Kulissen gestapelten Leinwänden. Plastisches, dreidimensionales New York, Hauseingänge, Überblenden in Zimmer, Blue-Box-Theater, so einfach wie eindrucksvoll. Designer Jerome Sirlin läßt die Außerirdischen kommen und es verflacht: rauschenberghafte, räumlich versetzte Tüllvorhänge, beziehungsreiche Projektionen assoziativer Grafiken - mit der vierten und fünften Dimension hat das noch nie so richtig geklappt. Der 3D-Effekt: Verblüffung, man gewöhnt sich daran, bekommt ein bißchen Kopfweh, der angehaltene Atem entweicht langsam - die Luft ist raus. Und es wird noch platter. Wenn das Mädchen die verlorene Zeit beschwört, sieht man eine Uhr, spricht sie mit dem Psychiater, erscheinen Rohrschacht-Testbilder, ist sie auf der Flucht - sinnbildlich natürlich -, pantomimisiert sie in erstarrter Laufbewegung. Jodi Long ist glaubhaft, solange der Text witzig gebrochen bleibt: „Are you a psychopath?“ „No!“ „That's a typical answer of a psychopath“ - wird es melodramatisch, wird's albern exaltiert. Kein Ansatz von rezitativer Starre, kein Hauch von sinnlicher Zweideutigkeit, keine Spur von Einstein. Come back, Robert Wilson, come back!

Schön, schön und angenehm. „Alles ist schön“ (Andy Warhol). Musik von Philip Glass ist schön, war schön, wird schön sein. Philip Glass produziert Philip-Glass-Musik und es ist nicht verwunderlich, daß sich die Welturaufführungen gegenseitig ins Haus fallen. „The Fall of the houses of Usher“ '88 in Cambridge, „The making of the representative for planet 8“ '88 in Huston, „1000 airplanes“ '88 in Wien, Berlin und den USA, und noch ist '88 nicht vorbei. Philip Glass zitiert sich selbst, und das ist nur konsequent. Ihm vorzuwerfen, daß er sich musikalisch wiederhole, ist unsinnig. 1. Es ist schön, einfach zu sein. 2. Es ist schön, populär zu sein. 3. Es ist schön, sich zu wiederholen. „Glass-Musik“ ist zum Markenartikel geworden. Variationen sind möglich: die repitierten Akkorde dröhnen jetzt als Fun -Baß oder Synthesizer-Schlagzeug, die Melodien klingen immer melodiöser, die Stimmen immer sphärischer. Je dramatischer die Handlung, desto lauter die Musik, Leitmotive winken, Flugzeugturbinen und Bienenschwärme - Philip Glass komponiert Filmmusik und dafür sind 40 Mark zuviel.

„Qatsi“ hin, „Qatsi“ her - über Musik ist nicht mehr zu sprechen. Denkbar, einen „echten Glass“ im Selbstbaukastenprinzip zu komponieren, Zitatbausteine, endlos kombinierbar, nur die Bildvorlagen wechseln. Die Idee ist verführerisch, das Ergebnis langweilig. Wo er früher dem Gefühl Zeit gegeben hat, die lange Weile als Spannung zu empfinden, verkauft er jetzt Musik in abgepackten Gefühlshäppchen: Verfallsdatum 1988. „1000 airplanes on the roof“ ist schön und vollkommen überflüssig. Kunstvoll gefaltet, bleiben die Flieger Papier, plattgetreten.

Konrad Heidkamp