Balten fordern Souveränität

■ Demonstration zum Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts / Moskauer Historiker bezweifelten Zusatzabkommen / Moskau will nationale Bewegung entschärfen

Berlin (taz) - Über 140.000 Menschen haben sich am Dienstag in den Hauptstädten Litauens und Lettlands, Vilnius und Riga an genehmigten Kundgebungen zum 49.Jahrestag des Hitler -Stalin-Pakts beteiligt und nationale Souveränität für ihre Staaten gefordert. Das Ausmaß der Demonstrationen ist bisher einmalig. In der Stadthalle der estnischen Hauptstadt Tallin zeigte man bisher unveröffentlichte Dokumentarfilme über den Einmarsch sowjetischer Truppen in Estland. Es hieß, das estnische Fernsehen würde am Mittwoch im Rahmen einer großen Sendung auch historische Ausschnitte von der Unterzeichnung des Vertrages zeigen. Mit zusammen nur etwa acht Millionen Einwohnern sind die baltischen Staaten die wirtschaftlich entwickeltsten in der Sowjetunion. Im Frühjahr hatten sich in allen drei Staaten sogenannte „Volksfronten“ gebildet, die auch die Veranstaltungen am Dienstag abend organisierten.

Im Rahmen des sowjetischen Systems setzen sie sich für die kulturelle und wirtschaftliche Souveränität ihrer Nationen ein. In Moskau bezweifelten russische Historiker vergangene Woche die Existenz eines geheimen Zusatzabkommens zum Hitler -Stalin-Pakt, der die Annektion der baltischen Staaten besiegelt habe. Das angeblich nicht mehr erhaltene Dokument wurde indessen letzte Woche in einer estnischen Jugendzeitschrift, dann in Estland und Lettland auch auf russisch veröffentlicht. Peter Sookrus, im ZK derestnischen KP für Propaganda zuständig, bestätigte, daß es sich bei der Veröffentlichung nicht um einen Zufall gehandelt habe.

Estnische Politiker äußerten in den letzten Tagen sogar die Hoffnung, schon im Januar die bisher zentral gelenkte wirtschaftliche und finanzielle Planung der Republik in eigene Regie zu übernehmen. Bisher wurden immerhin die Nationalflaggen der Republik Estland und der lettischen Stadt Riga in den Farben aus der Zeit der Unabhängigkeit wieder zugelassen. Dies gehört, ebenso wie die Genehmigunge der Kundgebungen, offenbar zu den Konzessionen, mit denen Moskau die nationalen Bewegungen zu entschärfen hofft. Ab Januar gilt im Baltikum nicht mehr die Moskauer Zeit, sondern die finnische: es wird eine Stunde später sein.

BK