BERICHT AUS EINER ZUFRIEDENEN STADT

■ Belagerung des Teatr Osmego Dnia in der UFA-Fabrik

Das Tor, durch das ich die Vorstadt betrat, war unbewacht. Gleichförmiges leises Stimmengewirr wehte mir entgegen, am Ende der Hauptstraße erblickte ich Licht und zahlreiche Menschen, die links und rechts an runden Tischen saßen, sich sachte unterhielten, tranken oder auch nur die Ankommenden betrachteten. Nein, hier wurde niemand belagert.

Die Hauptstraße endete vor einem weiteren Tor. Hier war es dunkler. Rechts davon saß verloren, mit hilflos suchendem Blick, ein Wächter hinter einem Tisch, vor sich einen Block mit grünen Passierscheinen und eine aufgeklappte Kasse für die Gebühren. Im Tor stand ein weiterer Wächter. Immer wieder durchschritten Personen das Tor, ohne daß einer der beiden Notiz von ihnen nahm. Ich überlegte, ob ich auch hindurchgehen sollte, wußte aber nicht recht und beschloß, erst einmal abzuwarten, zumal noch 10 Minuten Zeit war. Nach und nach kamen Leute hinzu, die vom Wächter am Tisch Passierscheine erwarben. In meiner Tasche befand sich zwar ein rotes Papier, das eigentlich alle Tore öffnet, doch vielleicht war in diesem Fall doch noch zusätzlich so ein grünes notwendig. Ich stellte mich also hinten in der Schlange an, um Auskunft zu erhalten.

Als ich nun vor dem Wächter stand und mein Anliegen vorbringen wollte, sagte ihm jemand, daß es schon vor dem Tor, in der Hauptstraße beginnen würde. Er blickte sich zu seinem Kollegen um - doch der war verschwunden. Durch das Tor waren bereits Menschen eingedrungen, die sich ratlos umsahen, denn dort drüben war es dunkel und still. Er sprang auf, ließ den Block mit den Passierscheinen und die offene Kasse mit den blinkenden Münzen und den bunten Scheinen allein, um die Menschen mit dem Versprechen, es würde „da vorne“ anfangen, zurückzuholen. Als er wieder zurückkehrte, gestand er den Umstehenden, daß er eigentlich „zu zweit“ wäre.

Jemand hielt ihm einen Geldschein hin, und er machte sich daran, einen Passierschein vom Block abzureißen. Hatte er mich nicht gesehen? Ich faßte allen Mut zusammen und wies auf meine Zugehörigkeit zu dem Unternehmen hin, von dem ich das rote Papier hatte. „Normalerweise melden die sich vorher an!“ Ich zuckte zusammen. „Ich dachte, ich käme so rein“, entgegnete ich kleinlaut. „Wann fängt denn der Film an?“, fragte jemand rechts von mir. „Welcher Film?“ „Na, der Western!“ „Ach so. Ja. Der fängt eine halbe Stunde später an.“ „Aber hier steht doch 22 Uhr!“. Der junge Mann zeigte mit dem Finger auf eine Anzeige, die die Stadt in die Wochenend-Programmbeilage einer Tageszeitung gesetzt hatte. „Eine halbe Stunde später!“ Ich holte noch einmal tief Luft

-da legte eine Frau einen Stapel Zettel auf den Tisch, auf denen stand „Wermut“. „Das ist das vorige Stück“, sagte ich. „Das ist das vorige Stück!“, wiederholte er für die Umstehenden.

Die Frau sah die Zettel eine Weile an und verschwand dann, ohne wieder aufzutauchen. Ich wies den Wächter auf meinen Besitz des roten Papieres hin, das ich ihm zur Bekräftigung auch zeigte. Nun stellte er auch mir einen Passierschein aus, nachdem er auf den Rand mit einem grünen Kugelschreiber die drei Buchstaben „t“, „a“ und „z“ gemalt hatte. Diesen Abschnitt riß er allerdings ab und behielt ihn. Ich drückte mich in eine dunkle Ecke unter einen Busch. „Kafka!“, dachte ich, bei dem passieren den Leuten auch immer so merkwürdige Sachen und sie tun was, das sie eigentlich gar nicht wollen.

Die Menge vor dem Tor staute sich mittlerweile bis zu der Gegend, wo die Leute an den runden Tischen saßen. Mir gegenüber stand ein länglicher Tisch, auf dem viele hübsche kleine Sachen lagen. Die Menschen, die daran vorbeikamen, blieben stehen, sahen sie mit begehrlichen Blicken an, doch niemandem schien der Gedanke zu kommen, einfach zuzugreifen, obwohl der Stuhl dahinter leer war, und sich niemand in der Nähe befand, dem die vielen hübschen Dinge gehören könnten. Mißtrauen schien es hier nicht zu geben - außer vermutlich gegen solche, die sich der Zugehörigkeit zu einem Unternehmen wie dem, welches mir das rote Papier ausgestellt hat, bezichtigen.

Plötzlich eine laute Stimme aus dem Nirgendwo: „Am Dienstag haben sie unseren Bürgermeister umgebracht, unsere Gesandten werden festgehalten...“ Auf den Dächern stehen Menschen in dunklen Umhängen, einige schwenken Fackeln, eine Frau zieht ein Papierstückchen nach dem anderen aus der Tasche und wirft sie vom Dach herunter. Auf einmal steht ein zerlumpter Mann auf der Straße, fuchtelt mit einem Messer herum und springt die Menge an. Belagerungselend, viele Namen fallen einem ein: Paris 1871, Madrid 1939, Jerusalem 70, Leningrad 1942-44, Warschau 1943 und 1944. Die Namen sind austauschbar, die Geschichten ähneln sich, aber - hier gibt es keinen Feind draußen vor der Stadt.

Wir werden durch das Tor geführt auf einen von Büschen umstandenen Rasenplatz, auf denen Grüppchen von Kerzen stehen. Schnell verwandeln sich die Kerzen in einen Belagerungsring, umstanden von ZuschauerInnen, die abwehrend die Arme verschränken. Menschen in abgetragener Kleidung laufen im Ring durcheinander, ein jeder mit seiner Sache beschäftigt. Eine Frau ruft, sie reise nach Rom, kann aber nicht aus dem Ring entkommen. Träume von Eingeschlossenen, die sich eine andere Welt wünschen. Musik aus Carl Orffs Carmina Burana ertönt, Personen auf Stelzen staksen hinein, Polizei, Militär, Funktionsträger, die mit Riesenschritten alles aufrühren. Schließlich zünden sie die armselige Habe eines Mannes an, die er auf einem Wagen hinter sich her gezogen hatte. Feuer wird von außen in den Ring gespuckt.

Eigentlich ein Reigen aus vielen filigranen Geschichten, manche wiederholen sich, man wurde auf sie zurückgeworfen und doch: die Wirkung verpuffte wie das gespuckte Feuer, die aufgerührten Wellen schienen vom Himmel, den Büschen und dem grünen Rasen geschluckt zu werden. Unversehens waren alle aus dem Ring verschwunden und es war still. Einige Leute begannen zu klatschen. Dann war es wieder ruhig.

Der Löwe an der Wand lächelte. Niemand, der beim Durchschreiten des Tores die Passierscheine hatte sehen wollen, und niemand, der die Gelegenheit genutzt hatte, ein Griff, die Kasse und weg.

Ein paar Pärchen knutschten, andere unterhielten sich aber niemand rührte sich vom Fleck, minutenlang, die Belagerung ging weiter. Eine Belagerung in einer zufriedenen Stadt.

Michael Vahlsing

Das Teatr Osmego Dnia spielt „Bericht aus einer belagerten Stadt“ heute noch einmal in einer unzufriedenen Stadt, auf dem Döblinplatz (Waldemar-/ Ecke Luckauer Str.), 1-36, um 21.30 Uhr, und zwar umsonst.