Der Blick ins Freie

■ Fernsehabend in der Strafanstalt

Dutzende von Leuten im zweivierzig schmalen Schlauch. Geglotzt wird auf dem Gang. Deshalb sind die Zellen heute bis um zehn offen. Ein Nebeneffekt der Tatsache, daß im Neubau kein Fernsehraum eingeplant worden ist. Sonst ist ab fünf am Nachmittag bereits alles dicht. Nur heute gibt's auch heißes Wasser: Die Tauchsiederanschlüsse sind bloß im Flur installiert.

Der Sendeton schnarrt und schleift. Ein Magermodell zischelt: Zick zack nur zwei Zalorien. Wöchentlicher Fernsehabend in der Strafanstalt Kaisheim, Bayern. Auf hohem Servierwagen steht das s/w-Gerät. Lichtschacht und Blick auf die mit allerneuesten NATO-Draht-Spiralen dekorierte Mauer sind von einem Drillich-Vorhang verdeckt; der Stoff, aus dem auch die Uniformen sind. Die verfluchten Köter blaffen in den Hof, wo sich das Echo überschlägt. Wasser kocht. Zeit, den Tee aufzugießen. Nur drei Minuten ziehen lassen, der Gerbsäure wegen.

Attraktion des Abends ist ein Krimi aus den Fünfzigern. Ein Propagandaschinken (der Staat, des Staates, dem Staate). Verständnis für die unterschwelligen Botschaften der groben Handlungsläufe soll ein mordsmäßiges Konstrukt fördern. Durch Studionebel stottert ein LKW. Johann Sebastian als kulturelle Komponente orgelt im Radio. Scheinwerfer: Zwei Gestalten schmeißen einen Schlaffmann auf die Fahrbahn. LKW drüber. Toccata und Fuge in D-Moll rumoren wie ein aufziehendes Gewitter. Der Mann ist den Bach hinunter. Der Fahrer hatte Promille, und anfangs glaubt niemand seiner Geschichte. Dann aber entdeckt die pfiffige Verteidigerin, daß ihr Ehegespons, mit dem sie Kellerbar und Sportcoupee teilt, der Mörder ist. Sie will ihn zum Geständnis zwingen und macht Terror (Toccata und Fuge zum Abendmahl). Tee schlürfend gebe ich die Hoffnung auf, ein kräftiges Buch lesen zu können. Die Dramatik des Filmes dringt durch Stahl und Stein.

Das Publikum pendelt zwischen Zelle und Zinnober, während der praktisch veranlagte Mann und Bauunternehmer der kriminologisch dilettierenden Gemahlin offenbart, daß er mit amerikanischen Besatzern Betongeschäfte gemacht habe und damals die Konkurrenz in einen Brückenpfeiler setzte. Im letzten Fall hätte er sich nur gegen Erpressung gewehrt. Die Frau spielt ihre Rolle überzeugend. Sie macht deutlich, daß sie ihren Partner auch wegen Wehrkraftzersetzung oder Verstosses gegen das Vermummungsverbot denunzieren würde. Stracks greift sie zum Telefon - was ist das? Der eigene Mann läßt sie nicht mit dem Kommissar sprechen? Dafür hat sie kein Verständnis. Sie fragt: Was geschieht hier? Sie soll in den Betonmischer. Während ich eine Tasse Tee trinke, wird sie auf der Baustelle gerettet. Drei Leute haben bis zum Schluß durchgehalten. Jetzt flammt Licht über den Korridor. Den Stuhl über den Arm gehängt, geht's ab in die gekachelte Kiste. Schlüssel schlagen Deckel zu. Goethe mit seinem Riecher für Action hat das Gretchen ins Elysium verdunsten lassen. Dagegen war dieses Finale bloß wie die gerettete Maid: blond und blöde.

Die vierbeinigen Wächter jaulen zum Mond. Mich läßt der Gedanke an die einbetonierte Konkurrenz nicht schlafen. Oder sollte es der Tee sein?

Den Titel des Filmes? Habe ich vergessen. Aber im Vorprogramm sang Bata Illic: Sand in den Schuhen ..., und Rex Gildo: Marie, der letzte Tanz ..., und er trug ein tailliertes Karo-Jackett mit Gesäßklappe, und er schwenkte die Ärmchen wie nach drei Bämbele Äppelwoi im Blauen Bock, aber es war eine Rückblende auf die Hitparade, die ein ehemaliger Schlittschuhläufer moderierte, und überdies eine Videoaufzeichnung, und deshalb konnte der Mann auch sagen: ... und ein gutes Neues Jahr - mitten im Sommer.

Norbert Jeschke