Beziehungskrise und Projektion - Nachbetrachtung zur Lafontaine-Debatte

Den Mangel an glaubwürdigen Zukunftsentwürfen zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit darf nicht durch die Vehemenz der Vorwürfe an die Gegenseite ersetzt werden  ■ D O K U M E N T A T I O N

In der Beziehungskrise zwischen SPD und Gewerkschaften ist kein Therapeut in Sicht, der die beiden Kontrahenten aus der Sackgasse wechselseitiger Projektionen herausführen könnte. Beide bezichtigen sich gegenseitig der Komplizenschaft mit dem neokonservativen Projekt der Sozialdemontage, der Kapitulation vor der bestehenden Herrschaftsordnung mit ihrer deutlichen Tendenz zur mehrfach gespaltenen Gesellschaft, die einen wachsenden Teil der Bevölkerung an den Rand und darüber hinaus drängt. Beide mogeln sich damit um eine ehrliche Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen Position in der bestehenden Herrschaftsordnung herum. Der eigene Mangel an glaubwürdigen und mobilisierungsfähigen Gegenentwürfen, die eigene Kurzatmigkeit und Halbherzigkeit in der praktischen Gegenwehr wird verdeckt von der Vehemenz des Vorwurfs an die Adresse des jeweils anderen. Der Vorwurf der Gewerkschaften an die SPD, sie kapituliere vor dem Profithunger der Herrschenden, wenn sie die Umverteilung zwischen Kapital und Arbeit vom Programm streiche, wenn sie Chancen für die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit nur noch in der Opferbereitschaft der Beschäftigten zugunsten der Arbeitslosen sehe, ist sicher berechtigt. Allerdings: Wann haben die Gewerkschaften selbst zum letzten Mal einen wirklich ernstgemeinten Angriff auf die bestehende Einkommensverteilung zwischen Kapital und Arbeit unternommen? Die Umverteilungskomponente in den Tarifvertragsforderungen wurde längst gestrichen oder hat nur noch die Funktion eines Erinnerungspostens - für bessere Zeiten.

Wenn umgekehrt die SPD den Gewerkschaften vorwirft, die Interessen der Arbeitslosen nicht angemessen zu vertreten, zumindest indirekt dazu beigetragen zu haben, daß sich die Lebenslagen der Menschen immer weiter auseinander entwickeln, dann impliziert dieser Vorwurf zumindest ein Problem, mit dem die Gewerkschaften sich ernsthaft auseinandersetzen müßten. Allerdings auch hier wieder: Hat nicht die SPD, die jetzt den Vorwurf mangelnder Solidarität an die Adresse der Gewerkschaften formuliert, zu Zeiten des sozialliberalen Bündnisses mit den Kürzungen des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe begonnen? Weder die SPD noch die Gewerkschaften haben ein eigenes Zukunftsprojekt jenseits der kapitalistischen Deformation von Arbeit, jenseits des Ausbeutungsverhältnisses der reichen BRD gegenüber dem größten Teil der Welt, jenseits der Allmacht von Herrschaft und Konkurrenz auch im zwischenmenschlichen Bereich, namentlich auch im Geschlechterverhältnis. Noch viel weniger haben sie eine glaubwürdige und mobilisierungsfähige Strategie der praktischen Annäherung an die eigene konkrete Utopie von Arbeit und Leben. Solange die eigene Verstrickung in die bestehende Herrschaftsordnung nicht zum Thema, sondern nur immer dem jeweils anderen zum Vorwurf gemacht wird, solange kritische Loyalität mit dem Stignum und den Sanktionen des Abweichlertums belegt wird, solange Denkverbote erteilt werden, sobald das von den Vorständen definierte „Eingemachte“ berührt wird - solange besteht m.E. keinerlei Aussicht, daß SPD oder Gewerkschaften Strategien zur Lösung der Probleme finden, an denen auch der Neo-Konservativismus auf kurz oder lang scheitern wird. Diese Probleme sind aus meiner Sicht vor allem der Erhalt der natürlichen Umwelt, die Befriedigung des Anspruchs der Frauen auf gleiche Lebenschancen und vor allem die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit mit all den daran hängenden Problemen der un- und mindergeschützten Beschäftigungsverhältnisse, der Altersversorgung und der Regionalstrukturen.

Die Lafontaine-Debatte hatte zwei Seiten: Arbeitszeitverkürzung und Lohnverzicht, Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit und Resignation vor den Verhältnissen, Anschluß an gewerkschaftliche Konzepte und Distanzierung von den Gewerkschaften. Warum war es nicht möglich, die positiven Seiten offensiv aufzugreifen, statt sich in der Abwehr der negativen Seiten einzubunkern? Wäre es nicht sinnvoller und einleuchtender gewesen, die Lafontaine-Debatte zum Anlaß zu nehmen, das Bewußtsein darüber zu schärfen, daß die internen Privilegien- und Herrschaftstrukturen innerhalb der Arbeitnehmerschaft eben nicht deren innere Angelegenheit sind, sondern Teil des Sicherrungssystems der bestehenden Herrschaftsordnung, daß sie deshalb auch nur gegen den entschiedenen Widerstand „des Kapitals“ und seiner politisch-ideologischen Handlanger verändert werden können? Statt sich in der Verteidigung von Einkommenspositionen zu üben, die immer schon jenseits der Reichweite gewerkschaftlicher und tarifvertraglicher Kontrolle lagen.

„Der Arbeiter würde ja gern seinem arbeitslosen Bruder ein Stück Arbeitszeit und Lohn, ein Stück Arbeitsschutz, ein Stück Tarifbindung und Kündigungsschutz abtreten - drängte sich nicht stets der Unternehmer in den Handel, um das Solidaritätsopfer in die eigenen Taschen fließen zu lassen“

-, so Detlef Hensche, in 'Konkret‘ zur Lafontaine-Debatte. Fragt sich nur, was „der Arbeiter“ sagt, wenn auch noch seine arbeitslose Schwester ein Stück Arbeitszeit und Lohn usw. abhaben will. Und vor allem: Was würde denn „der Angestellte“ sagen, wenn sich die arbeitslosen Brüder und Schwestern an ihn wendeten - um die Angestellten mit einem Jahreseinkommen von 60.000DM und mehr ging es ja schließlich bei der Debatte um die Möglichkeiten einer Beschleunigung der Arbeitszeitverkürzung durch Zugeständnisse beim Lohnausgleich in den höheren Verdienstklassen. Und da warnt dann Detlef Hensche auch prompt: „Nebenbei“ bemerkt er, daß die gewerkschaftlichen Bemühungen um Angestelltenwerbung mit der Propagierung von Solidaritätsopfern für Spitzenverdiener „sicher nicht gefördert“ würden.

Ja was denn nun: Scheitert die große Aktion der Solidarität an den profitgierigen Unternehmern, oder liegen die Probleme nicht auch im eigenen Lager? Wenn Hensche beispielsweise schreibt, der Gedanke der Solidarität habe schließlich schon Pate an der Wiege der Gewerkschaften gestanden, die sich deswegen jede Belehrung in dieser Angelegenheit durch einen saarländischen Ministerpräsidenten verbitten, so unterschlägt er die Tatsache, daß der historische Ursprung für die Gründung der Gewerkschaften nicht zuletzt auch (und besonders ausgeprägt im graphischen Gewerbe) die Absicherung der Interessen relativ privilegierter Facharbeiter und Handwerker gegen die „Schmutzkonkurrenz“ der Ungelernten und Landflüchtlinge war. Es geht nicht darum, eigennützige Einkommensinteressen als illegitim zu diffamieren, aber es geht sehr wohl darum, zu erkennen, daß in ihnen Grenzen gewerkschaftlicher Handlungsmöglichkeiten liegen, die nicht dadurch überwunden werden, daß man sie leugnet, sondern nur dadurch, daß sie zum Gegenstand einer offenen und ehrlichen Auseinandersetzung gemacht werden.

Das sogenannte Normalarbeitsverhältnis, der Bezugspunkt gewerkschaftlicher Politik, verengt sich immer mehr auf einen schrumpfenden Kern relativ privilegierter Beschäftigtengruppen, um den sich ein immer breiterer Rand minder- und ungeschützter Beschäftigungsverhältnisse mit fließenden Übergängen in die phasenweise und dauernde Arbeitslosigkeit anlagert. Dementsprechend schrumpft auch die auf dieses Normalarbeitsverhältnis bezogene Gestaltungskraft gewerkschaftlicher Politik im allgemeinen und Tarifpolitik im besonderen für die soziale Realität insgesamt, dementsprechend verengt sich die Vertretungsmacht und der realistischerweise aufrechtzuerhaltende Vertretungsanspruch der Gewerkscahften auf einen relativ immer kleiner werdenden Teil der „Arbeitsbevölkerung“.

Zum Ende des 1.Halbjahres 1988 ermittelte das WSI -Tarifarchiv eine tarifliche Wochenarbeitszeit von 39 Stunden im Durchschnitt aller Tarifbereiche. Wenn es in diesem Tempo weitergeht - eine Stunde Arbeitszeitverkürzung in dreieinhalb Jahren -, dann wäre die 35-Studen-Woche im Jahre 2002 erreicht. Eher ist aber damit zu rechnen, daß sich mit dem nachlassenden Schwung der gewerkschaftlichen Arbeitszeitpolitik auch das Tempo der Arbietszeitverkürzung noch verlangsamen wird. Dies wird mit Sicherheit dann der Fall sein, wenn sich die Vorreiter-Gewerkschaften in Sachen Arbeitszeitverkürzung, IG Metell und IG-Druck, Anfang der 90er Jahre nach der Durchsetzung der 35-Stunden-Woche in ihren Bereichen, die schwer genug werden wird, von der allgemeinen Arbeitszeitverkürzung vorläufig verabschieden werden.

Die Gewerkschaften haben in der Lafontaine-Debatte wenig Neigung gezeigt, über Möglichkeiten zur Beschleunigung des Tempos der Arbeitszeitverkürzung nachzudenken. Darüber hinaus deutet sich ein Bedeutungswandel der alten Parole aus dem 84er Streik „35 Stunden sind genug“ in dem Sinne an, daß sich die 35 als neue Maginotlinie der Arbeitszeit etablieren könnte. Wenn die Gewerkschaften den Arbeitgeberverbänden Gelegenheit und Zeit geben, die 35-Stunden als neues Tabu zu etablieren, wenn es nicht gelingt, die Arbeitszeitverkürzung zu beschleunigen und möglichst schnell über die 35-Stunden -Woche hinauszutreiben, dann bleiben die Aussichten für den Arbeitsmarkt so düster, wie sie in zahlreichen Prognosen und Szenarien beschrieben wurden, und dann sind die Zukunft der Arbeit und die Zukunft der Gewerkschaften auch nicht sehr viel lichter als die Perspektiven des Arbeitsmarktes.

Dr.Ingrid Kurz-Scherf