Ehekrach zwischen Genossen und Kollegen

Vor dem SPD-Parteitag befinden sich die Beziehungen zur Gewerkschaft auf dem Tiefpunkt / Die „Enkel“ beider Organisationen verfolgen unterschiedliche Modernisierungsstrategien / IG-Metall beklagt „Friedensschluß“ des SPD-Nachwuchses mit dem Kapital / Braucht mehrheitsfähige SPD „neue Mittelschichten“?  ■  Von Martin Kempe

Es sind immer die gleichen Floskeln: Vom Streit in der „Jahrhundert-Ehe“ spricht die Funktionärszeitschrift der Industriegewerkschaft Metall, 'Der Gewerkschafter‘. Und die (parteilose) Tarifexpertin am gewerkschaftseigenen Forschungsinstitut WSI, Ingrid Kurz-Scherf, schlägt in einem internen Diskussionspapier (siehe Dokumentation des gekürzten Textes) die Hinzuziehung eines Ehe-Theraputen vor, um die „Beziehungskrise zwischen SPD und Gewerkschaften“ zu erklären. Unmittelbar vor dem gerade begonnenen Parteitag der SPD ist die Zerrüttung zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaften unverkennbar. Von ehelicher Zuneigung keine Spur - es wird geholzt: Lafontaine, der stellvertretende SPD -Vorsitzende und neue Lieblingsfeind der Gewerkschaften, nervt die Kollegen beharrlich mit der Anschuldigung, sie seien durch ihre unflexible Tarifpolitik für die anhaltende Massenarbeitslosigkeit mitverantwortlich. Die IG Metall schießt zurück: „Die SPD will sich bei harmoniesüchtigen bürgerlichen Wählern anbiedern.“ Soweit die These Nummer vier in der IGM-Zeitschrift, die ihre August-Ausgabe dem Schwerpunkt Sozialdemokratie gewidmet hat.

Eine klärende Auseinandersetzung ist nicht in Sicht. Seit der saarländische Ministerpräsident Lafontaine sich im Frühjahr mit seiner Forderung zum Lohnverzicht bei beamteten Spitzenverdienern in die Tarifauseinandersetzung des Öffentlichen Dienstes eingemischt hat, herrscht Eiszeit zwischen den Ehe-Partnern, „wechselseitige Projektionen“ (Kurz-Scherf) bestimmen die Atmosphäre. Besonders die aufstrebenden „Enkel“ der Sozialdemokratie haben das Mißtrauen der Gewerkschaften auf sich gezogen. Sie propagieren den „Sozialismus in einer Klasse“, heißt es im 'Gewerkschafter‘, verlieren den „Blick für den wirklichen Gegner“. Sie wollen den „Friedensschluß“ mit dem Kapital und treiben die Volkspartei SPD programmatisch in die Arme der CDU. Bei einem solchen „Anpassungskurs gegenüber den Herrschenden“ haben die Gewerkschaften auch von einer neuerlichen Regierungsübernahme der Sozialdemokraten in Bonn nichts Gutes zu erwarten.

Wer ist gemeint? „Lafontaine, Schröder, Engholm“, heißt es in der Umgebung des IGM-Vorsitzenden Franz Steinkühler, erliegen der Verlockung, antigewerkschaftliche Stimmungen für die SPD zu mobilisieren. Nach der heftigen Auseinandersetzung um die Lafontaine-Vorschläge im Frühjahr sei der Verdacht hängengeblieben, daß es nicht um unterschiedliche Meinungen in einem eingrenzbaren Politikfeld gehe, sondern um prinzipielle strategische Differenzen.

Die Fronten sind dabei höchst kompliziert. Denn in beiden Organisationen findet eine heftige Diskussion um gesellschaftliche Modernisierungs- und Reformstrategien statt. In beiden Organisationen gibt es einen denkfaulen Traditionsblock, der sich dieser Diskussion beharrlich entgegenstellt. Erschwerend kommt hinzu, daß die sozialdemokratische „Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen“ (AfA) von Traditionsgewerkschaftern wie dem IG-Chemie-Vorsitzenden Hermann Rappe dominiert wird, die jede programmatische Weiterentwicklung über die alten sozialdemokratischen Standards hinaus mißtrauisch beargwöhnen, egal ob in der Partei oder in der Gewerkschaft. „Die Mehrheitsfähigkeit der SPD“, schrieben die sozialdemokratischen IG-Bergbau-Funktionäre Norbert Römer und Udo Wichert mit Hinweis auf die traditionellen SPD -Hochburgen im Ruhr-Revier vor zwei Wochen im 'Vorwärts‘, „wächst mit ihrer Nähe zu den Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften“.

Genau dies ist für Lafontaine und andere Enkel aber nichts weiter als sozialdemokratische Selbstbeschränkung auf einen schrumpfenden Stamm von Traditionswählern. Mehrheitsfähig wird die SPD erst in der Konkurrenz um die „neuen Mittelschichten“, um die Angestellten mit hohem Bildungsniveau, die „Facharbeiter neuen Typs“, die seit einiger Zeit auch von den Gewerkschaften heftig umworben werden. Die Bewahrung des proletarischen Traditionsbestands reicht nicht aus, weder für die Sozialdemokraten noch für die Gewerkschaften.

Die Konfliktlinien verlaufen aber nicht allein zwischen sozialdemokratischen Modernisierern und gewerkschaftlich orientierten SPD-Traditionalisten, sondern zwischen unterschiedlichen Modernisierungsstrategien in beiden Lagern. Auch in den Gewerkschaften ist die Enkelgeneration inzwischen in die Führungspositionen eingerückt und heftig bemüht, die Gewerkschaften programmatisch auf das 21.Jahrhundert einzustimmen. Enkel Steinkühler ( politischer Ahnherr: Willi Bleicher) hat seiner Organisation eine Zukunftsdiskussion verpaßt, die im Herbst in einem groß angelegten „Zukunftskongreß“ gipfeln und von der Tarif- bis zur Technologiepolitik neue gewerkschaftliche Strategien vorformulieren soll. Anders als die SPD ist die Gewerkschaft dabei jedoch immer wieder konfrontiert mit den betrieblichen Machtverhältnissen. Insofern kommt für die IG Metall trotz aller programmatischer Öffnung für Impulse aus den neuen sozialen Bewegungen ein „Friedensschluß mit dem Kapital“ zumindest verbal nicht in Frage. Dies aber wollen nach Gewerkschaftsmeinung die sozialdemokratischen Enkel: „Sie scheuen den Konflikt mit dem Kapital und wollen dessen Rendite im Weltmaßstab verbessern helfen“, heißt es im 'Gewerkschafter‘. Daß bei derart grundsätzlicher und heftiger Kritik an den SPD-Enkeln auch produktive Anregungen für die gewerkschaftliche Politik verschüttet werden, kritisert die DGB-Tarifexpertin Ingrid Kurz-Scherf in ihrem Diskussionspapier über die Beziehungskrise zwischen SPD und Gewerkschaften.