: Geiselnahme: Vom Abwarten ins Action-Desaster
NRW-Innenminister Schnoor zeigt keine Traute, sein Konzept des Abwartens zum Schutze der Geiseln auch nach dem Geiseldrama offensiv zu vertreten / Die Katastrophe begann in Bremen / Politiker verstecken sich hinter den Polizeiführern ■ Von W.Jakobs/K.Wolschner
Düsseldorf/Bremen (taz) - „Selbstverständlich bleibe ich bei der Politik, die ich bisher in NRW betrieben habe. Es kann ja wohl nicht wahr sein, daß Liberalität im Bereich der Innenpolitik nicht mehr zulässig ist.“ So reagierte der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Schnoor auf die Angriffe der Opposition, Schnoors Linie sei Schuld am Ausgang des Geiseldramas. Nimmt man die ersten Tage nach der tödlichen Geiselaffäre zum Maßstab, dann klingt Schnoors Bekenntnis zur liberalen Standfestigkeit wenig überzeugend. Seine vermeintlich clevere Verteidigungslinie - mit Politik hat das Geiseldrama nichts zu tun, das ist allein Sache der Polizei - ist nichts weiter als ein ängstlicher Rückzug.
Tatsächlich hat die Opposition mit ihrem Vorwurf, die Polizei hätte bei geringerem Risiko für die Geiseln viel früher eingreifen können, sogar Recht. Daß dies - mit gutem Grund - dennoch nicht geschah, hat sehr wohl mit der NRW -Sicherheitspolitik zu tun, die offensiv zu verteidigen Schnoor derzeit aber nicht mehr wagt. Während CDU-MdB Gerster schon bei der „Verhöhnung des Rechtsstaates“ Grund genug sieht, „den Tod der Geiseln in Kauf zu nehmen“, lautete bisher der Leitsatz der Schnoor-Politik: Bei Geiselnahmen ist das Leben der Geiseln zu allererst zu schützen, danach erst kommt der Strafanspruch des Staates, und auch das Leben der Geiselnehmer ist zunächst ein schützenswertes Gut. Nach diesem Grundsatz handelte in der Vergangenheit nicht nur Innenminister Schnoor - aber er besonders. Auch in Gladbeck hielt sich die Polizei an diese Vorgabe. Weil die Verhandlungen scheiterten und ein Zugriff am Tatort für die Geiseln zu risikoreich schien, ließ man die Gangster fahren - in verwanzten Wagen. Keine besonders ungewöhnliche Situation. Schon mehrmals hatte man so in NRW Geiselnahmen ohne Blutvergießen beenden können. Bei 32 sehr unterschiedlichen Fällen wurden die Täter nur einmal nicht gefaßt.
Spezialist empfahl
freien Abzug
Der Leiter der polizeilichen Verhandlungsgruppe, ein erfahrener Spezialist, empfahl dem Gladbecker Einsatzleiter nach stundenlangen Gesprächen mit den Geiselnehmern, diese ziehen zu lassen: „Ich gehe davon aus, daß die Täter, wenn sie sich lange genug unbeobachtet fühlen, die Geiseln freilassen.“ Diese Einschätzung hielt sich bei der Polizei über einen langen Zeitraum hinweg. Nicht zuletzt deshalb, weil die mitgehörten Gespräche der Täter darauf hindeuteten, daß die Freilassung, so die Polizei, „unmittelbar bevorstand“. Deshalb ließen die Verfolger mindestens zweimal relativ günstige Zugriffsmöglichkeiten aus. Zunächst auf einer Tankstelle, ein weiteres Mal in Bremen-Vegesack. Risikoloser - und da hat die Opposition Recht - als bei der Rambo-Aktion auf der Autobahn in Siegburg wäre ein Eingriff hier allemal gewesen. Und dennoch war das Warten richtig, entsprach das Zögern der Logik des ganzen Einsatzes, was Innenminister Schnoor jedoch nicht offensiv darzustellen wagt. Er macht gerade deshalb eine schlechte Figur, weil er sich hinter den Polizeiführern versteckt, die, wenig überzeugend, ihre Entscheidungen ausschließlich mit polizeilichen Lagebeurteilungen zu begründen versuchen. Dabei ist offensichtlich: richtig waren ihre Entscheidungen nur im Rahmen der liberalen politischen Vorgaben.
Zur Katastrophe wendete sich die Affäre erst in Bremen; die Bankräuber hatten sich in Sicherheit gewogen, getrennt Einkaufsbummel gemacht und - so hörte die Polizei über die im Fluchtwagen installierte Wanze mit - den Geiseln erklärt: „Wir lassen euch in den Karpaten frei, verbinden euch die Augen und hauen ab.“ Und dann begann eine Serie von strategischen Pannen, bei denen die Polizei immer wieder versuchte, die Schuld auf „die Journalisten“ zu schieben. Allerdings mußte die Polizei in etlichen Fällen ihre ersten Auskünfte aufgrund der Recherchen und Augenzeugenberichte von Journalisten korrigieren.
Die Bankräuber bemerkten in Bremen, daß sie der Polizei nicht entkommen waren - weil das der NDR in seinen Nachrichten meldete, erklärte die Polizei. Den Nachweis für diese Behauptung blieb sie bisher schuldig. Als die Bankräuber in der Bremer Neustadt einmal wendeten, kamen ihnen die Verfolger-Fahrzeuge gleich reihenweise entgegen das war gegen 17.30 Uhr. Erst danach, um 18.18 Uhr, stellt das polizeiliche Ablaufprotokoll fest: „Zielfahrzeug hat offensichtlich Verfolgung erstmals (!) erkannt.“ Der Fluchtwagen steuert den türkischen Gemüseladen an, aus dem sich Rösner um 18.21 Uhr über den Wortbruch der Polizei beschwerte und 300.000 bis 400.000 Mark Nachschlag forderte. Erst um 19 Uhr wurde der Bus dort gekapert. In der Zwischenzeit fragte die Bremer Straßenbahn (BSAG) zweimal bei der Kripo an, ob an der Haltestelle Huckelriede Gefahr im Verzuge sei.
Die Auskunft, so der Sprecher der BSAG, sei jedesmal negativ gewesen; der Busfahrer vor Ort hatte allerdings Verdacht geschöpft, und als die Bankräuber nach ihrem Telefonat vor der Tür einen Schuß in die Luft abgaben, weigerte er sich, fahrplanmäßig loszufahren - das hätte ihn unmittlbar an dem Gemüseladen vorbeigeführt: „Ich lasse mich doch nicht totschießen.“
Fragen bleiben offen
Warum der Bus dann dennoch losfuhr, warum er vor der Ampel auf der Höhe des Gemüseladens vorschriftsmäßig hielt, ob es stimmt, daß die Bremer Kripo immerhin um 18.49 Uhr der Verkehrsgesellschaft die „Anweisung“ gegeben hat, die Haltestelle zu räumen - diese Frage hat der Aufsichtsratsvorsitzende der Straßenbahn-AG, Bernd Meyer, mit dem politisch verantwortlichen Innensenator Bernd Meyer in den zwei Wochen seit dem Tag des Geisel-Dramas nicht klären können. Offensichtlich hat nicht einmal ein klärendes Gespräch stattgefunden. BSAG-Pressesprecher Pietsch erwartet sich von dem von der Bremer CDU beantragten Untersuchungsausschuß Aufklärung über die völlig widersprüchlichen Versionen.
„Dieser Ausschuß wird für die Polizei furchtbar werden“, prophezeit der Bremer FDP-Chef Jäger: „Da werden die kleinen Beamten vorgeladen und müssen sich nach ihren Fehlern befragen lassen.“ Zum Beispiel die Beamten der Sondereinheiten, die auf der Autobahnraststätte Grundbergsee geradezu danach gierten, endlich zuschlagen zu können - und das, obwohl die Bankräuber 30 Geiseln vor der gezogenen Pistole hatten und die vertrauliche Polizei-Dienstvorschrift an erster Stelle das Ziel nennt, „das Leben der Geiseln zu schützen“. O-Ton aus SEK-Funksprüchen: „Kannst du dich nicht unter die Journalisten mischen und den abdrücken?“. Antwort: „Zu gerne würde ich das tun.“ Oder: „Da muß doch jetzt der Zugriff erfolgen. Augenscheinlich scheint das niemand mehr in die Hand zu nehmen.“ Oder: „Das Ding ist denen entglitten. Die Bremer sind froh, daß sie es raus haben aus dem Stadtgebiet.“
Das war präzise beobachtet. Die Bremer Einsatzleitung hatte nicht einmal mehr einen Notarztwagen hinter dem vollbesetzten Bus mit Geiseln hergeschickt. Und sie wußte nichts davon, daß die SEKs und MEKs vor Ort den „Zugriff“ vorbereiteten nach dem Motto: „Sollen wir die abfischen?“ Während die einen das planten, standen die anderen der Freundin des Geiselnehmers Rösner auf ihrem Weg zum Klo schlicht im Weg. Notwehr, habe der Beamte „glaubhaft versichern können“, so redet sich der Innensenator heraus. Es dauert sechs Minuten, bis die Einsatzzentrale davon überhaupt erfährt, so eigenständig handeln die Sonderkommandos vor Ort.
Die Einsatzzentrale muß sich erst einmal ganz allgemein erkundigen, wie die Lage vor Ort ist, verhandelt über ein Radiogerät, das die Bankräuber verlangt haben. Angeblich sei geprüft worden, ob man einen „Zugriff“ auf die beiden Bankräuber wagen könne - ohne einen Notarztwagen vor Ort zu haben.
Als die Frau endlich am Bus ankommt, liegt der 15jährige Italiener schon in seinem Blut, und kein Arzt ist da, ihm zu helfen. Wenn es bei dem vorläufigen fachärztlichen Gutachten bleibt, das der Innensenator dem Bremer Parlament vortragen mußte, und demgemäß die Schußwunde dem Jungen möglicherweise ein Auge, wahrscheinlich aber nicht das Leben gekostet hätte, dann muß die Staatsanwaltschaft schon deswegen gegen die Einsatzleitung wegen „fahrlässiger Tötung durch Unterlassen“ ermitteln.
Der Grüne Martin Thomas faßte zusammen: „Die SEKs und MEKs mit ihrem ständigen Warten auf Einsatz und Zugriff sind selber Teil des Problems geworden.“ Die Pannen „sind die logische Konsequenz des gesamten Einsatzkonzeptes, das eben nicht den Schutz der Geiseln an die erste Stelle gesetzt hat, sondern das auf den starken Staat gesetzt hat“. Warum sonst ist in den drei Stunden, in denen die Bankräuber mit 30 Geiseln an der Bushaltestelle standen und mehrfach Kontakt zur Polizei suchten, kein kompetenter Verhandlungspartner an Ort und Stelle aufgetaucht?
Nachdem die Bankräuber den Bus wieder gegen einen schnellen PKW eingetauscht und von den Geiseln nur die zwei jungen Frauen mitgenommen hatten, galt der Polizei das Leben der Geiseln offenbar kaum noch etwas. Anders als mit der Angst vor einer Blamage der Staatsmacht läßt sich die übereilte, risikoreiche Schießerei auf der Siegburger Autobahn nicht erklären.
Nicht eine politisch zu verantwortende „liberale Linie“ hat sich in den 52 Stunden der Geiselnahme durchgesetzt, sondern zum Schluß in Bremen Zug um Zug der Kampfgeist der Sondertruppen, die polizeiliche Technik der Kommandos, die den Tod der Objekte ihrer Befreiungsaktionen bewußt in Kauf nehmen. Gerade diese Entwicklung haben die beiden Innenminister zu verantworten, die nicht mehr im Sinne einer liberalen Linie zum Schutze der Geiseln intervenierten.
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