Ein und doch kein Nouveau Roman

■ Brigitte Burmeisters „Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde“

Weder spannend noch amüsant“ hatte die in Berlin-Mitte lebende Romanistin Brigitte Burmeister das aus dem Frankreich der fünfziger und sechziger Jahre stammende Genre des Nouveau Roman 1983 in einer wissenschaftlichen Abhandlung beschrieben. Überzeugt von der Fruchtlosigkeit vordergründig engagierter Literatur in den hochindustrialisierten Ländern von heute hatten die Nouveau -Romanciers „die Sprache“ zum eigentlichen Abenteuer der Literatur erklärt. Auf den ersten Blick scheint es, daß Brigitte Burmeister mit ihren zweifellos an Alain Robbe -Grillet, Natalie Sarraute und Michel Butor geschultem literarischen Erstling nur einen deutschen Nouveau Roman geschrieben hat, den der Verlag der Nation/DDR und der Luchterhand-Verlag/BRD gleichzeitig verlegt haben.

Ein artistisches Sprachkunststück ist Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde allemal, eine Sprachabenteurerin kommt hier zu Wort: „Es ist vorauszusehen, daß meine Geschichte sich nicht entfalten wird, daß sie am Boden kleben bleibt, an einem Papierstück in Fahrscheingröße, an einer Münze, die der über den Sandalenrand ragende große Zeh eines nackten Fußes beinah berührt. Kein weiteres Ausholen und Aufsteigen.“

Ein kleiner Beamter namens Anders, der aus der Provinz in die große Stadt - wahrscheinlich die Hauptstadt - versetzt worden ist, hat in einem „schmucklosen Bau von verwirrender Weitläufigkeit“ tagtäglich Berichte abzufassen. „Wie oft sind früher meine dienstlichen Schriftstücke wegen ihrer Ausführlichkeit getadelt worden. Ich hielt es für voreilig und unvorsichtig, festlegen zu wollen, was dem Immergleichen zugerechnet und deshalb nicht erwähnt werden sollte. Großzügigkeit in der Arbeitsauffassung hat bei einem vergeßlichen Menschen wie mir die schlimmsten Folgen. Ich brächte alles durcheinander, ließe womöglich Entscheidendes aus. Um dem vorzubeugen, blieb ich, gegen Mahnungen und Proteste, ja, es muß leider gesagt sein, auch gegen Drohungen bei meiner Art des Berichtens. Die Kosten, die durch die vorübergehende Einstellung eines Herrn entstanden, der mit dem Studium und der Zusammenfassung meiner Texte beauftragt war, habe ich durch sparsamsten Papierverbrauch und haben die anderen durch Übung im rationellen Lesen wieder wettgemacht.“

Man ahnt dunkel, um welche Art Texte es sich handelt, die Anders auf freilich merkwürdige, eben „andere“ Weise produziert, es sind im Grunde überflüssige, wenn nicht gar gefährliche Texte. Überflüssig sind sie sicher, aber so wichtig, wie der Leser zunächst annehmen muß, sind sie wiederum auch nicht, denn irgendwie geht doch durch, daß Anders an anderer Stelle von sich sagen kann: „Lieber bisse ich mir die Zunge ab, als einem Menschen, der Berichte auswertet, irgendetwas von dem preiszugeben, was ich für essentiell halte.“ Dabei ist er alles andere als ein heimlicher Opponent, er ist vielmehr ganz und gar Opportunist, gerade dadurch, wodurch er auch mal opponiert, kurz, er ist der Beamte von heute oder noch allgemeiner, der Mensch von heute, wie du und ich.

Dazu gehört auch, daß er sich um einige Nuancen von seinen Kollegen unterscheidet, die „auch nach Dienstschluß sehr beschäftigt sind. Sie haben sich um Familien, Häuser, Gärten und Autos zu kümmern. Ich bin der einzige, dem es nicht darauf ankommt, pünktlich zu Hause zu sein.“ Und obwohl er sich mit dem Heimgehen Zeit läßt, geht er doch einer Sucht entgegen: Er verschreibt auch seine Abende. „Denn was vermag amtliche Klarstellung gegen unsere Phantasien und Hirngespinste, wenn sie uns wie eine Wahrheit ergriffen haben? (...) Sobald ich aber abends ein Blatt Papier hervorhole, beginnen die Schwierigkeiten. Da war es - in einer der dunklen Straßen dieser Stadt. In der Erinnerung bleibt ein graues Feld mit undeutlichen Einschlüssen, Formen, die immer unwirklicher werden, je genauer ich sie mir vorzustellen versuche. Sie entziehen sich, verschwimmen, zergehen, als wäre da nie etwas gewesen. Ich kämpfe nicht gern um verblaßte Eindrücke. Meine Zuneigung gehört dem Protokoll. Am liebsten schreibe ich, was ich sehe und höre, fortlaufend und gleichmäßig auf, so wie ich es höre und sehe. Da war zum Beispiel das einfache Schaufenster auf der anderen Straßenseite...“

Einerseits gibt er zu, von der Allmacht der Phantasie zu wissen, andererseits gilt seine Zuneigung doch vor allem dem Protokoll. Anders ist eben immer wieder anders. Der Leser soll auch gar nicht aus ihm schlau werden. Anders ist ein widersprüchlicher und doch auch wieder einfältiger Zeitgenosse, ganz wie du und ich. Am Anfang des „Kleinen Romans“ (Untertitel) scheint es, als fasse er seine Berichte als Briefe für die „Lieben daheim“ ab. Sie wachsen sich aber doch rasch zu inneren Monologen, Tagebüchern, Jugenderinnerungen und minutiösen Beobachtungen der Stadtwüste aus.

Die Schreibmanie läßt ahnen, daß Anders an menschlichen Kontakten nicht sehr interessiert ist oder daß er jedenfalls unfähig ist, solche selbst herzustellen. Der Zufallskontakt mit einem gewissen D., der Anders sogar in seine Wohnung abschleppt und seiner Frau vorstellt, schafft denn auch nur Verwirrung, und fast meint man, daß er lieber auf die Begegnung verzichtet hätte, denn er findet das Paar zu schmuddelig, zu unordentlich, zu laut und zu anmaßend, kurz: zu lebendig. Hier muß freilich wieder das „fast“ betont werden, denn es bleibt doch nicht aus, daß sich Anders in das rätselhaft schöne und unerhört freie Wesen verliebt, das aber nun mal D.s Frau ist. Es bleibt freilich bei einer Liebe, die sich nicht erklären will und kann, die sich wiederum nur schriftlich manifestiert, teils in knöchernen Andeutungen, teils in erstaunlich erotischen Phantasien, die man so wiederum Anders gar nicht zugetraut hätte. Die größte Überraschung dürfte freilich sein, daß die Frau, die auch schreibt - aber sicher genau das Gegenteil von dem, was Anders verfaßt - ihm ihre Blätter zuspielt und darin - so sehen es jedenfalls die eifersüchtigen Randbemerkungen von D. - ihre Liebe zu Anders bekennt. Der Leser hat sich freilich an Vorenthaltungen schon gewöhnt und wundert sich kaum, daß aus dem Dreierdrama nichts wird, weil das Paar, ohne sich von Anders zu verabschieden, die große Stadt verläßt.

Auch Anders muß sie wieder verlassen, er war nur für ein Jahr hierher versetzt. Er wird nun in einer anderen Zweigstelle seiner Behörde Berichte schreiben und abends so kündigt es der Ausklang des „Kleinen Romans“ an - wieder Berichte für die „Lieben daheim“ erstellen.

Wer Anfang, Ende, Höhepunkt, aufsteigenden und absteigenden Ast einer Geschichte erwartet hat, wird enttäuscht sein. Folgen wird hier nur der Leser, der bereit ist, in das monotone Labyrinth des wirklichen Lebens und der in Wahrheit stets zerrissenen Wahrnehmung, die wir davon haben, einzudringen. Spannung und Amüsement stellen sich - anders als bei den meisten Nouveau Romans - aber wunderbarerweise doch ein, und zwar wohl deshalb, weil dieser Anders so ambivalent ist wie beinahe jeder von uns. Er ist gar nicht so unsympathisch, wie er oft wirkt, er beweist auch manchmal Mut, wenn auch nur versteckten. Es ist nicht ganz klar, ob er ein neues Auschwitz zulassen würde oder nicht, kurz: Er ist, ich sagte es schon, anders als sein Name es vermuten ließe, ganz wie du und ich.

Es ist also nicht ganz so wie im Nouveau Roman, deren Helden noch nicht einmal Interesse wecken. Anders wächst uns irgendwie ans Herz. Zumindest würde man sich schon einmal für einen seiner dienstlichen Berichte interessieren - diese billige Gefälligkeit versagt uns die Autorin freilich wohl ganz bewußt. Wir sollen eben über Anders keine drei Kreuze schlagen, er soll ruhig weiter in uns wühlen.

Ich habe mich auch gefragt, woher der alles in allem mildere Blick seine Berechtigung hat, mit dem Anders im Unterschied zu den ihm ja doch sehr verwandten Helden oder Antihelden von Kafka und Camus auf die Welt schaut. Ihm, Anders, fehlt das Umfeld sowohl zur Tragödie als auch zum Drama. Er ist nicht mehr ganz Objekt, aber doch auch noch lange kein Subjekt. Er ist das sensible Symbol des heutigen Mitteleuropäers.

Sabine Kebir

Brigitte Burmeister: „Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde. Ein kleiner Roman“. Verlag der Nation/DDR und Luchterhand/BRD, 1987